Der Engelsturm
seiner tödlichen Verbannung wie Blut genährt hatte, sondern auch Inelukis furchtbare, irre Einsamkeit zu ihm hin.
Er liebte sein Volk, dachte Simon. Er gab sein Leben für sein Volk, aber er starb nicht.
Während er das Wesen aus kurzer Entfernung hilflos anstarrte und beobachtete, wie es wieder zu Kräften kam, fiel ihm das Bild Inelukis vor dem großen Teich ein, das Leleth ihm gezeigt hatte. So erschütternd unglücklich sein Gesicht auch ausgesehen hatte, die Entschlossenheit darin war die gleiche gewesen wie bei Eahlstan, als er in seinem Sessel gesessen und auf den schrecklichen Wurm gewartet hatte, von dem er wusste, dass er sich ihm stellen musste und dass der Drache ihn töten würde. In gewisser Weise glichen sie einander, Ineluki und Eahlstan. Beide taten, was getan werden musste, auch wenn es ihr eigenes Leben kostete. Ihm selbst ging es nicht anders.
Leid. Seine Gedanken flatterten umher und starben wie Motten im Licht, aber er klammerte sich an diesen einen. Ineluki nannte sein Schwert Leid. Warum hat sie mir das gezeigt?
In seinem Augenwinkel bewegte sich etwas. Binabik und Miriamel, durch Pryrates’ Tod von ihrem Bann befreit, torkelten auf ihn zu. Miriamel sank in die Knie. Binabik stolperte noch ein Stück weiter, den Kopf nach vorn gebeugt, als stemme er sich gegen starken Wind.
»Ihr werdet unsere Welt zerstören«, keuchte der Troll. Obwohl er mit weit offenem Mund sprach, klangen seine Worte so sacht wie das Schwirren samtener Schwingen. »Ihr habt kein Recht mehr, hier zu sein, Ineluki. Es wird nichts mehr geben, über das Ihr herrschen könnt. Ihr gehört nicht hierher!«
Die schwarze Wolke betrachtete ihn und hob die flackernde Hand. Simon sah, wie Binabik angstvoll vor der vernichtenden Berührung zurückwich. Er merkte, dass Furcht und Hass wieder inihm aufsteigen wollten. Ohne zu wissen, warum, wehrte er sich dagegen.
Hass hat ihn an den dunklen Orten am Leben gehalten. Fünf Jahrhunderte brannte er in der Leere. Hass ist alles, was er hat. Ich habe auch gehasst. Ich habe empfunden wie er. Wir sind gleich.
Er kämpfte darum, sich das gequälte Gesicht des leidenden Ineluki vor Augen zu halten. Es war das wahre Gesicht dieses entsetzlichen Feuerwesens. Nichts in der ganzen Schöpfung verdiente ein Schicksal wie das des Sturmkönigs.
»Es tut mir leid«, flüsterte er dem Gesicht in seiner Erinnerung zu. »Du hättest nicht so leiden dürfen.«
Die Kraft, die aus Hellnagel floss, nahm plötzlich ab. Das Wesen, das Leid hielt, drehte sich zu ihm um. Wieder überkam Simon tödliche Angst. Sein Herz wurde zusammengepresst.
»Nein«, keuchte er und suchte nach einem festen Halt in seinem Inneren. »Ich will … dich fürchten, aber … ich werde … dich nicht hassen. «
Ein stiller Augenblick, der Jahre zu dauern schien. Dann erhob sich Camaris langsam aus seiner knienden Stellung und richtete sich schwankend auf. In seinen Händen atmete Dorn noch immer Schwärze, aber Simon spürte, wie sein Sog schwächer wurde, als seien Simons eigene Empfindungen über die Stelle, an der sich die Schwerter berührten, bis zu Camaris hingeflossen.
»Vergeben …«, krächzte der alte Ritter. »Ja. Es soll alles vergeben …«
Im Herzen der Dunkelheit, die der Sturmkönig war, entstand ein Beben. Das blutrote Licht wurde matter und erlosch. Ein glühender Dunst quoll hervor, summend wie ein Bienenschwarm. Inmitten der Schatten, umhüllt von Rauch, wurde das blasse, schmerzverzerrte Gesicht von König Elias sichtbar. Aus seinen Haaren kräuselten sich Rauchfäden. Flammen sprangen aus Umhang und Hemd.
»Vater!« In Miriamels Schrei lag ihre ganze Seele.
Der König richtete den Blick auf sie. »Ach, Miriamel …«, hauchte er. Seine Stimme war nicht völlig menschlich. »Er hat zu lange darauf gewartet. Er will mich nicht freigeben. Ich war ein Narr, und nun … erhalte ich … meinen Lohn. Es tut … mir leid, Tochter.« EinKrampf schüttelte ihn, und seine Augen leuchteten rot auf, obwohl die verzerrten Züge sich nicht veränderten. »Er ist zu stark … sein Hass ist zu stark. Er … lässt … mich … nicht … frei …«
Sein Kinn sank auf die Brust. Rote Glut erblühte in der Höhle seines Mundes.
Miriamel stieß einen wortlosen Schrei aus und hob die Arme. Simon fühlte mehr, als er sah, wie etwas im Flug an ihm vorbeizischte.
Aus Elias’ Brust ragte ein gefiederter weißer Schaft. Einen Herzschlag lang gehörten die Augen des Königs wieder ihm selbst, und er fand Miriamels
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