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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Hasutal.«
    »Das ist nicht möglich«, erwiderte Miriamel. »Aber du brauchst nicht mitzukommen.«
    Heanwig hatte sich unauffällig der Tür genähert. Jetzt blieb er, die Hand schon am Holz, noch einmal stehen und senkte den Kopf. »Ich danke dir, junge Gebieterin. Ädons Licht soll über dir leuchten.« Er hielt inne und wusste nicht, was er sagen sollte. »Hoffentlich kommt ihr heil davon.«
    »Auch dir vielen Dank, Heanwig«, antwortete Miriamel feierlich.
    Simon unterdrückte ein gereiztes Stöhnen und rief sich die Tatsache ins Gedächtnis, dass ein Ritter – anders als ein Küchenjunge – weder Gesichter schnitt noch solche Laute von sich gab, vor allem dann, wenn dieser Ritter sich die Gunst seiner Herrin nicht verscherzen wollte. Wenigstens würde sie der alte Kerl nun doch nicht begleiten. Das war für ein wenig Nachsicht eine annehmbare Belohnung.Als sie hinter Stanshire ins Land hinausritten, fing es wieder zu regnen an. Zuerst waren es nur wenige Tropfen, aber im Lauf des Vormittags wurde daraus ein Wolkenbruch. Der Wind wehte immer stärker und trieb ihnen die Nässe in kalten, wasserfallartigen Güssen ins Gesicht.
    »So schlimm wie auf einem Schiff im Sturm!«, rief Miriamel.
    »Auf einem Schiff hat man aber wenigstens Ruder«, rief Simon zurück, »und die werden wir hier auch bald brauchen!«
    Miriamel zog die Kapuze tief ins Gesicht und lachte. Simon wurde es sofort wärmer ums Herz, als er sah, dass er sie erheitert hatte. Er schämte sich ein bisschen, weil er den alten Mann so schlecht behandelt hatte: Fast unmittelbar, nachdem Heanwig den Weg hinuntergeschlurft war, wieder zurück ins Innere von Stanshire, war auch Simons schlechte Laune verflogen. Er wusste selbst nicht recht, was ihn an dem alten Mann so beunruhigt hatte, eigentlich hatte Heanwig ja gar nichts getan.
    Durch eine Reihe tief ausgefahrener Wege, jetzt kaum mehr als schlammige Bachläufe, kehrten sie auf die Flussstraße zurück. Die Gegend wurde allmählich wilder. Das Ackerland hinter Stanshire, wenn auch größtenteils verunkrautet, zeigte doch mit seinen Zäunen, Steinmauern und gelegentlichen Hütten Spuren menschlicher Bewirtschaftung. Aber als dann die Stadt mit ihrem umliegenden Siedlungen hinter ihnen zurückblieb, setzte sich erneut die Wildnis durch.
    Es war eine ungewöhnlich trostlose Landschaft. Der schier unendliche Winter hatte die Bäume entlaubt und schien selbst mit den immergrünen Kiefern und Fichten recht rauh umgegangen zu sein. Simon fand sich durch die eigentümlich verzerrten Formen der Stämme und Äste an die sich windenden Menschenleiber in dem Fresko Tag des Abwägens erinnert, das sich über die ganze Wand der Kapelle auf dem Hochhorst zog. So manche langweilige Stunde in der Kirche hatte er sich damit vertrieben, fasziniert die Folterszenen anzustarren und den Erfindungsreichtum des namenlosen Künstlers zu bewundern. Hier jedoch, in der kalten, nassen Wirklichkeit, fand er die knotigen Schemen eher abstoßend. Blattlose Eichen, Ulmen und Erlen ragten in die Lüfte, Skeletthände, die sich ballten und ausstreckten,wenn der Wind es ihnen befahl. Mit dem von schwarzen Wolken verdeckten Himmel und dem schräg über die morastigen Hänge gejagten Regen war das Bild weit hoffnungsloser als die Verzierungen in der Kapelle.
    Simon und Miriamel ritten, meist wortlos, weiter durch den Sturm. Simon war äußerst betrübt, dass die Prinzessin den Kuss von gestern Abend nicht ein einziges Mal erwähnt oder auch nur darauf angespielt hatte. Er wusste, dass der Tag für Tändeleien aller Art ganz und gar ungeeignet war, aber sie schien so tun zu wollen, als sei überhaupt nichts geschehen. Simon wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Mehrmals stand er kurz davor, sie einfach zu fragen, aber es fiel ihm nichts ein, das sich am hellen Tag nicht albern angehört hätte. Der Kuss war ein wenig wie seine Ankunft damals in Jao é-Tinukai’i gewesen – ein Augenblick außerhalb der Zeit. Vielleicht war das, was sie gestern Nacht geteilt hatten, etwas wie ein Ausflug zum Feenhügel gewesen, etwas Magisches, dazu bestimmt, so schnell zu entschwinden wie ein Eiszapfen in der Sommersonne.
    Nein. Das lasse ich nicht zu. Ich werde mich immer daran erinnern … selbst wenn sie es vergisst.
    Er warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Ihr Gesicht war weitgehend unter der Kapuze versteckt, aber er konnte ihre Nase, ein Stück von der Wange und das spitze Kinn sehen. Sie sah fast aus wie eine Sitha, dachte er, anmutig und

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