Der Engelsturm
setzte sich gerade hin, schüttelte den Kopf und lauschte. Der Regen hatte aufgehört, aber vom Dach des Weghauses tropfte noch immer das Wasser und rann zur Erde.
Er kroch zu Miriamel hinüber, um sie zu wecken, hielt jedoch an ihrem Lager inne und sah sie im Schein des verglühenden Feuers an. Sie hatte sich im Schlaf gedreht und den Mantel abgestreift, der ihr als Zudecke diente. Ihr Hemd war aus der Hose gerutscht und entblößte einen Streifen weißer Haut an ihrer Seite und die im Schatten liegende Rundung der untersten Rippen. Simon fühlte, wie ihm das Herz in der Brust stockte, so sehnte er sich danach, sie zu berühren.
Wie von selbst stahl seine Hand sich zu ihr hinüber. Sanft wie Schmetterlinge schwebten seine Finger über ihre Haut, die kühl war und glatt. Unter seiner Berührung richteten sich die kleinen Härchen auf.
Miriamel gab einen schläfrigen, ärgerlichen Laut von sich und schob ihn fort, eine schnelle Bewegung, als hätten sich die Schmetterlinge in unangenehme Kriechtiere verwandelt. Hastig zog Simon die Hand zurück.
Einen Augenblick verharrte er und versuchte, wieder ruhiger zu atmen. Er kam sich vor wie ein um Haaresbreite ertappter Dieb. Endlich streckte er erneut die Hand aus, diesmal jedoch nur, um ihre Schulter zu ergreifen und sie vorsichtig zu rütteln.
»Miriamel. Wacht auf, Miriamel.«
Sie stöhnte und rollte sich auf die andere Seite, mit dem Rücken zu ihm. Simon schüttelte sie etwas fester. Die Prinzessin knurrte unwillig und tastete mit den Fingern vergeblich nach ihrem Mantel, als suche sie Schutz vor einem grausamen Plagegeist.
»Kommt, Miriamel. Ihr seid mit der Wache dran.«
Die Prinzessin schlief wirklich sehr fest. Simon beugte sich über sie und sprach in ihr Ohr. »Wach auf. Es ist Zeit.« Ihr Haar kitzelte seine Wange.
Miriamel lächelte nur leicht, als hätte jemand einen Scherz gemacht, und hielt die Augen geschlossen. Simon rutschte nach unten, bis er neben ihr lag. Einen Augenblick betrachtete er die Biegung ihrer Wange im rötlichen Schein der Glut. Dann nahm er die Hand von ihrer Schulter und legte sie um ihre Mitte. Er schob sich nach vorn, bis seine Brust ihren Rücken berührte. Nun ruhte seine Wange ganz in ihren Haaren, und sein Körper umgab den ihren. Sie murmelteetwas Unverständliches und drückte sich ganz leicht an ihn. Dann verstummte sie wieder. Simon hielt vor lauter Furcht, sie könnte aufwachen oder er selber husten oder niesen und dadurch diesen schmerzhaft schönen Moment zerstören, den Atem an. Er spürte ihre Wärme bis in die Zehenspitzen. Sie war kleiner als er, viel kleiner, er konnte sie umschließen und beschützen wie eine Rüstung. Am liebsten würde ich immer so liegen bleiben, dachte er.
So kuschelten sich die beiden aneinander wie junge Kätzchen im Nest, und Simon schlief allmählich ein. Die Notwendigkeit, Wache zu halten, war vergessen, aus seinem Kopf geweht wie ein Blatt, das die Flussströmung fortträgt.
Als er aufwachte, war er allein. Miriamel stand draußen vor dem Weghaus und striegelte mit einem kahlen Zweig ihr Pferd. Dann kam sie wieder herein, und die beiden frühstückten mit Brot und Wasser. Sie sprachen nicht über die Nacht, aber Simon schien es, als sei sie nicht mehr ganz so spröde, als sei ein Stück ihrer Kälte geschmolzen, während sie schlafend beieinandergelegen hatten.
Sie folgten der Flussstraße noch sechs weitere Tage, behindert durch den eintönigen Regen, der den breiten Dammweg in morastigen Schlamm verwandelt hatte. Das Wetter war so entmutigend und die Straße in der Regel so leer, dass Miriamels Furcht, entdeckt zu werden, abzunehmen schien, obwohl sie noch immer ihr Gesicht verbarg, wenn sie durch kleinere Städtchen wie Bregshame und Garwynswold kamen. Nachts schliefen sie in Weghäusern oder unter den undichten Dächern von kleinen Kapellen am Straßenrand. Wenn sie abends, in der Stunde zwischen Essen und Schlafen, zusammensaßen, erzählte Miriamel Simon Geschichten aus ihrer Kindheit in Meremund, und er berichtete ihr von seinem Leben unter Küchenjungen und Kammerfrauen. Aber als die Nächte vergingen, sprach er immer öfter über seine Zeit mit Doktor Morgenes, von der Gutgelauntheit und dem gelegentlichen feurigen Zorn des alten Mannes, von seiner Verachtung für alle, die keine Fragen stellten, und seiner Freude über das unerwartet komplizierte Wechselspiel des Daseins.
An dem Abend, als sie durch Garwynswold gekommen waren,brach Simon plötzlich in Tränen aus,
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