Der Engelsturm
konnten, und hatten Falshire bis zum Abend ein gutes Stück hinter sich gelassen. Sie befanden sich jetzt in der Wildnis westlich der Stadt. Als es dunkel wurde – nur eine geringfügige Trübung des ohnehin düsteren Tageslichts –, stießen sie am Wegrand auf ein kleines Heiligtum der Elysia und schlugen dort ihr Lager auf. Nach einer kargen Mahlzeit und noch kargerer Unterhaltung zogen sie sich in ihre Schlafdecken zurück. Dieses Mal schien es Simon nichts auszumachen, dass Miriamel ihre Decken auf der anderen Seite des Feuers ausbreitete.
Nach diesem ersten Tag im Sattel, der auf mehrere Krankheitstagefolgte, nahm Miriamel an, würde sie sofort einschlafen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.
Sie wälzte sich hin und her, suchte eine bequemere Stellung, aber nichts wollte helfen. So lag sie da, starrte nach oben ins Nichts, lauschte im Dunkeln einem leichten Regen, der auf das Dach des Heiligtums rieselte.
Sie fragte sich, ob Simon sie verlassen würde. Der Gedanke erfüllte sie mit unerwartetem Schrecken. Zwar hatte sie betont, die Reise – wie ursprünglich geplant – auch allein zu unternehmen, aber inzwischen war ihr klar, dass sie es eigentlich doch nicht wollte. Vielleicht war es falsch gewesen, ihm alles zu sagen. Vielleicht hätte sie ihm lieber etwas vorlügen sollen, bei dem sie nicht so vollständig das Gesicht verlor. Jetzt fand er sie möglicherweise so abstoßend, dass er doch zu Josua zurückkehren würde.
Und das wollte sie nicht – jetzt begriff sie es. Es war nicht allein die Vorstellung, allein durch dieses finstere Land zu reisen, die sie so störte … die Wahrheit war, dass er ihr fehlen würde.
Es war merkwürdig, dass es ihr erst klar wurde, nachdem sie zwischen Simon und sich selbst eine unübersteigbare Mauer errichtet hatte, aber sie war sich sicher, dass sie ihn nicht verlieren wollte. Er hatte in ihrem Herzen einen Platz erobert, den kein anderer Freund je eingenommen hatte. Seine manchmal knabenhafte Torheit hatte sie, wenn sie sich nicht gerade darüber aufregte, schon immer bezaubert, jetzt aber wurde sie durch einen schönen Ernst ergänzt, der ihr noch mehr gefiel. Öfter bereits hatte sie sich dabei ertappt, dass sie ihn anstarrte und staunte, wie schnell aus dem Jungen ein Mann geworden war.
Und er hatte noch andere Eigenschaften, die sie liebgewonnen hatte – seine Freundlichkeit, seine Treue, seine Aufgeschlossenheit. Sie bezweifelte, dass selbst die weltgewandtesten Höflinge ihres Vaters dem Leben das gleiche vorurteilslose Interesse entgegenbrachten wie Simon.
Der bloße Gedanke, das alles zu verlieren, wenn er sich von ihr trennte, erschreckte sie.
Aber sie hatte ihn verloren – zumindest würde immer ein Schatten auf ihrer Freundschaft liegen. Simon hatte den Makel gesehen,der den Kern ihres Wesens befleckte, einen Makel, den sie ihm so auffällig und widerwärtig wie möglich dargestellt hatte. Sie war nicht bereit, länger unter einer Lüge zu leiden. Und zu sehen, was er für sie empfand, war größeres Leid, als sie ertragen konnte. Er hatte sich in sie verliebt.
Und sie sich in ihn.
Der Gedanke traf sie mit unvermuteter Wucht. Stimmte das tatsächlich? Sollte die Liebe die Menschen nicht treffen wie ein Blitzschlag vom Himmel, blendend und betäubend? Oder wenigstens wie ein süßer Duft, der aufstieg und die Luft erfüllte, bis man an nichts anderes mehr denken konnte? So waren ihre Gefühle für Simon ganz sicher nicht gewesen. Sie dachte an ihn, an die ulkige Art, wie sich morgens seine Haare sträubten, an sein ernstes Gesicht, wenn er sich Sorgen um sie machte.
Elysia, Mutter Gottes, nimm diesen Schmerz von mir. Habe ich ihn geliebt? Liebe ich ihn noch?
Jetzt kam es ohnehin nicht mehr darauf an. Sie hatte das Nötige getan, um den Schmerz zu lindern. Am schlimmsten wäre es gewesen, Simon weiter im Glauben zu lassen, sie sei eine keusche Jungfrau, seiner jugendlichen Ideale würdig – das war noch schlimmer, als ihn ganz zu verlieren, wenn es denn dazu kommen musste.
Aber warum war der Schmerz dann trotzdem so quälend?
»Simon?«, flüsterte sie. »Bist du wach?«
Wenn er es war, gab er keine Antwort. Sie war mit ihren Gedanken allein.
Der folgende Tag machte einen noch düstereren Eindruck. Der Wind wehte scharf und schneidend. Sie ritten schnell und ohne zu reden, und Simon ließ Heimfinder wieder ein Stück vor Miriamel und ihrem noch immer namenlosen Pferd laufen.
Am späten Vormittag erreichten sie die Weggabelung, an der
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