Der Engelsturm
die Flussstraße sich mit der Alten Waldstraße vereinigte. Am Kreuzweg hingen in eisernen Käfigen zwei Leichname, und zwar unübersehbar bereits längere Zeit. An den im Wind flatternden Kleiderfetzen oder den Knochen ließ sich nicht mehr ablesen, wer die Unglücklichen gewesen sein mochten. Miriamel und Simon schlugen im Vorbeireitendas Zeichen des Baumes und hielten sich so fern wie möglich von den knarrenden Käfigen. Sie bogen in die Alte Waldstraße ein, und bald verschwand die Flussstraße hinter den niedrigen Hügeln im Süden.
Der Weg begann bergab zu führen. Im Norden konnten sie jetzt den Saum des Aldheorte erkennen, der hier bis weit in die Vorberge hineinreichte. Als sie in die ersten Senken des Hasutals hinunterritten, nahm im Schutz der Berge der Wind ab. Trotzdem fühlte Miriamel sich unbehaglich. Selbst jetzt zur Mittagszeit war das Tal dunkel und fast völlig still. Nur der Morgenregen, der von den kahlen Ästen der Eichen und Eschen tröpfelte, war zu hören. Sogar die Immergrünbäume waren voller Schatten.
»Dieses Tal gefällt mir nicht, Simon.« Sie trieb ihr Tier an, und er ritt langsamer, bis sie ihn eingeholt hatte. »Es war schon immer ein stiller, geheimnisvoller Ort – aber jetzt ist da noch etwas anderes.«
Simon zuckte die Achseln und blickte auf die in tiefen Schatten liegenden Hänge. Erst als sie merkte, wie lange er die unbewegliche Landschaft anstarrte, begriff sie, dass er ihr nicht in die Augen sehen wollte.
»Die meisten Orte, durch die wir gekommen sind, haben mir nicht gefallen.« Seine Stimme klang kalt. »Aber wir reisen ja auch nicht zum Vergnügen.«
»Das habe ich nicht gemeint«, gab Miriamel verärgert zurück, »und du weißt es auch, Simon. Ich meine, dass mir dieses Tal irgendwie … ich weiß nicht … gefährlich vorkommt.«
Jetzt drehte er sich doch um. Sein Lächeln war so hämisch, dass es ihr wehtat. »Voller Spuk, meint Ihr? Wie der alte Säufer uns erzählt hat?«
»Ich weiß eben nicht genau, was ich meine«, versetzte Miriamel erbost. »Aber ich merke auch, dass ich nur meine Zeit verschwende, wenn ich mit dir darüber rede.«
»Kein Zweifel.« Er berührte Heimfinders Flanken sanft, aber absichtsvoll mit den Sporen, und die Stute trabte weiter. Miriamel betrachtete seinen geraden Rücken und hätte ihn am liebsten angeschrien. Was hatte sie erwartet – oder besser: Was wollte sie eigentlich? War es nicht besser für ihn, die Wahrheit erfahren zuhaben? Vielleicht würde es ja irgendwann wieder besser werden, wenn er erst einsah, dass sie trotz allem Freunde sein konnten.
Die Straße senkte sich immer tiefer ins Tal hinab. Die dichtbewaldeten Berge zu beiden Seiten schienen immer höher zu werden. Kein Mensch war zu sehen, und die wenigen, baufälligen Hütten, die sich an die Hänge schmiegten, schienen unbewohnt. Wenigstens würden sie einen Unterschlupf für die Nacht finden, ein tröstlicher Gedanke, denn Miriamel hatte nicht die geringste Lust, hier im Freien zu schlafen. Sie hatte einen ernstlichen Widerwillen gegen das Hasutal gefasst, obwohl nichts vorgefallen war, das ihr einen Grund dazu gegeben hätte. Aber die lähmende Stille und die drückenden, überwucherten Berghänge trugen – vielleicht noch verstärkt durch ihren eigenen Kummer – dazu bei, dass sie den Augenblick herbeisehnte, in dem sie das Tal verlassen und die Landzunge von Swertclif vor sich sehen würden, auch wenn das bedeutete, dass Asu’a und ihr Vater dann nah sein würden – sehr, sehr nah.
Auch der Gedanke an eine weitere angespannte, stumme Nacht mit Simon hatte etwas Entmutigendes. Vor ihrem letzten unerfreulichen Wortwechsel hatte er den ganzen Tag kaum mit ihr gesprochen, und wenn, dann nur über alltägliche Dinge. Er hatte behauptet, in der Nähe des Heiligtums, in dem sie übernachtet hatten, frische Fußspuren entdeckt zu haben, was er ihr kurz, nachdem sie aufgebrochen waren, mitgeteilt hatte, aber er hatte es ganz beiläufig und scheinbar sorglos erwähnt.
Miriamel hielt es insgeheim für wahrscheinlicher, dass die Abdrücke im Schlamm von ihnen selbst stammten, weil sie auf der Suche nach Feuerholz ziemlich weit herumgelaufen waren. Davon abgesehen hatte Simon sich nur dann an sie gewandt, wenn es Zeit war, anzuhalten, zu essen und die Pferde rasten zu lassen oder um sich kurz zu bedanken, wenn sie ihm eine Mahlzeit bereitet oder den Wasserschlauch gereicht hatte. Es würde keine angenehme Nacht werden, davon war Miriamel überzeugt.
Mitten im
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