Der Engländer
Isherwood hat Ihnen die Codes gegeben?«
»Ja.«
»Wer hat Mr. Isherwood die Codes gegeben?«
»Das weiß ich nicht. Der Anwalt des Auftraggebers, vermute ich.«
»Haben Sie sich die Codes notiert?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Das war nic ht nötig.«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich sie mir gemerkt habe.«
»Tatsächlich? Sie müssen ein sehr gutes Gedächtnis haben, Signor Delvecchio.«
Der Kommissar verließ den Raum und blieb eine Viertelstunde lang fort. Als er zurückkam, brachte er eine Tasse Kaffee für sich selbst und nichts für Gabriel mit. Er nahm wieder Platz und machte weiter, wo er aufgehört hatte.
»Diese Vereinbarungen kommen mir eigenartig vor, Signor Delvecchio. Ist es üblich, daß Sie nicht erfahren, um welchen Künstler es sich handelt, bevor Sie eintreffen, um mit der Restaurierung zu beginnen?«
»Nein, das ist nicht üblich. Tatsächlich ist es sehr ungewöhnlich.«
»Ganz recht.« Baer lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, als komme dieses Eingeständnis einem unterschriebenen Geständnis gleich. »Ist es auch üblich, daß Sie den Namen des Besitzers eines Bildes, das Sie restaurieren sollen, nicht erfahren?«
»Das kommt gelegentlich vor.«
»Rolfe.« Er beobachtete Gabriel, um zu sehen, ob dieser Name irgendeine Reaktion hervorrief, was nicht der Fall war.
»Der Besitzer des Gemäldes heißt Augustus Rolfe. Er ist auch der Mann, den Sie in der Villa ermordet haben.«
»Ich habe niemanden ermordet, das wissen Sie genau. Er ist lange vor meiner Ankunft in Zürich ermordet worden. Zum Tatzeitpunkt habe ich noch im Zug gesessen. Das können Dutzende von Zeugen bestätigen.«
Gabriels Argumentation schien den Kriminalbeamten unbeeindruckt zu lassen. Er trank einen Schluck Kaffee, dann sagte er ruhig: »Erzählen Sie mir, was passiert ist, als Sie die Villa betreten haben.«
Gabriel schilderte den Ablauf der Ereignisse mit monotoner Stimme: die dunkle Eingangshalle, sein Tasten nach dem Lichtschalter, der nicht unterschriebene Brief in der Glasschale auf dem Tisch, der seltsame Geruch beim Betreten des Salons, die Entdeckung der Leiche.
»Haben Sie das Gemälde gesehen?«
»Ja.«
»Vor der Entdeckung der Leiche oder danach?«
»Danach.«
»Und wie lange haben Sie es sich angesehen?«
»Schwer zu sagen. Ungefähr eine Minute lang.«
»Sie haben gerade eine Leiche aufgefunden, und trotzdem nehmen Sie sich die Zeit, ein Bild zu betrachten.« Der Kriminalbeamte schien nicht recht zu wissen, was er mit dieser Information anfangen sollte. »Erzählen Sie mir von diesem Maler…« Er warf einen Blick in seine Notizen. »… von diesem Raffael. Ich bin leider kein großer Kunstkenner.«
Gabriel merkte, daß er log, beschloß aber, sein Spielchen mitzuspielen. In der folgenden Viertelstunde hielt er Baer einen detaillierten Vortrag über Leben und Werk Raffaels: seine Ausbildung, seine Vorbilder, seine maltechnischen Innovationen, die bleibende Bedeutung seiner Hauptwerke. Als er damit fertig war, starrte der Kriminalbeamte den Kaffeerest in seiner Tasse an - ein geschlagener Mann.
»Möchten Sie noch mehr hören?«
»Nein, vielen Dank. Das war sehr nützlich. Wenn Sie Augustus Rolfe nicht ermordet haben, weshalb haben Sie die Villa dann verlassen, ohne die Polizei zu verständigen? Warum haben Sie versucht, aus Zürich zu flüchten?«
»Ich wußte, daß die Umstände verdächtig erscheinen würden, deshalb bin ich in Panik geraten.«
Der Kommissar musterte ihn skeptisch, als könne er nicht glauben, daß Mario Delvecchio ein Mann war, der dazu neigte, in Panik zu geraten. »Wie sind Sie vom Zürichberg zum Hauptbahnhof gekommen?«
»Mit der Straßenbahn.«
Baer inspizierte Gabriels beschlagnahmtes Eigentum sorgfältig. »Ich sehe hier kein Billett für diese Fahrt. Sie haben doch bestimmt eines gelöst, bevor Sie in die Tram eingestiegen sind?«
Gabriel schüttelte den Kopf: schuldig im Sinne der Anklage.
Kommissar Baer zog ruckartig die Augenbrauen hoch. Die Vorstellung, Gabriel sei schwarzgefahren, schien ihn mehr zu erschrecken als die Möglichkeit, er könnte einen alten Mann durch einen Kopfschuß getötet haben.
»Das ist ein ernstes Vergehen, Signor Delvecchio! Das wird Sie sechzig Franken Geldbuße kosten, fürchte ich.«
»Tut mir sehr leid.« .
»Sind Sie schon früher in Zürich gewesen?«
»Nein, niemals.«
»Woher haben Sie dann gewußt, welche Tram Sie zum Hauptbahnhof bringen würde?«
»Das war nur ein glücklicher Zufall. Sie
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