Der Engländer
kurzem war er für eine Übergangszeit zum Chef des Dienstes ernannt worden - eine Position, die er innegehabt hatte, als er erstmals zwangspensioniert und in die Wildnis von Judäa geschickt worden war. Gabriel fragte sich, ob er noch immer im Amt war.
Bei Schamron konnte eine Übergangszeit hundert Tage oder hundert Jahre dauern. Obwohl er aus Polen stammte, hatte er den dehnbaren Zeitbegriff eines Beduinen. Gabriel war Schamrons kidon. Schamron würde diesen Fall übernehmen, ob er nun pensioniert war oder nicht.
Der Alte… Er war immer »der Alte« gewesen, selbst während seines kurzen Versuchs, als Mann in mittleren Jahren aufzutreten. Wo ist der Alte? Hat jemand den Alten gesehen?
Haut schleunigst ab! Der Alte ist hierher unterwegs! Jetzt war Schamron wirklich alt, aber vor Gabrie ls innerem Auge stand noch immer die bedrohliche kleine Gestalt, die ihn an einem Nachmittag im September 1972 in einer Vorlesungspause in der Kunstakademie Betsal'el aufgesucht hatte. Ein stahlharter Mann.
Man konnte ihn fast klirren hören, wenn er sich bewegte. Er hatte alles über Gabriel gewußt. Hatte gewußt, daß er in einem Kibbuz im Jezreeltal aufgewachsen war und das Landleben leidenschaftlich haßte. Hatte gewußt, daß er seinem Wesen nach ein Einzelgänger war, obwohl er schon damals mit seiner Kommilitonin Leah Savir verheiratet war. Hatte gewußt, daß seine Mutter die Kraft aufgebracht hatte, Auschwitz zu überleben, aber keine Chance gegen den Krebs hatte, der ihren Körper zerstörte; daß auch Gabriels Vater Auschwitz überlebt hatte, aber keine Chance gegen die ägyptische Granate gehabt hatte, die ihn auf dem Sinai zerfetzt hatte. Hatte aus seiner Stammakte beim Militär gewußt, daß er mit Waffen fast so geschickt umgehen konnte wie mit seinen Pinseln.
»Sie verfolgen die Fernsehnachrichten?«
»Ich male.«
»Sie haben von München gehört? Sie wissen, was unseren Jungs dort zugestoßen ist?«
»Ja, das habe ich gehört.«
»Das regt Sie nicht auf?«
»Natürlich tut es das - aber auch nicht mehr, weil sie Sportler oder Olympiateilnehmer waren.«
»Sie könnten trotzdem zornig sein.«
»Auf wen?«
»Auf die Palästinenser. Auf die Terroristen des Schwarzen September, die mit dem Blut Ihres Volkes an den Händen herumlaufen.«
»Ich bin niemals zornig.«
Und obwohl Gabriel das damals nicht ahnte, besiegelten diese Worte Schamrons Engagement für ihn, und er begann, ihn zu umgarnen. »Sie beherrschen Fremdsprachen, ja?«
»Ein paar.«
»Ein paar?«
»Meine Eltern mochten Hebräisch nicht, deshalb haben sie europäische Sprachen gesprochen.«
»Welche?«
»Das wissen Sie bereits. Sie wissen alles über mich. Diese Spielchen können Sie sich sparen.«
Und so beschloß Schamron, ihm reinen Wein einzuschenken.
Golda Meir hatte ihn angewiesen, »die Jungs loszuschicken«, um sie die Verbrecher des Schwarzen September, die dieses Blutbad angerichtet hatten, liquidieren zu lassen. Das Unternehmen sollte den Decknamen »Zorn Gottes« tragen.
Dabei gehe es nicht um Gerechtigkeit, sagte Schamron. Hier gehe es um Auge für Auge - schlicht und einfach um Rache.
»Tut mir leid, Ari. Danke, daß Sie mich gefragt haben. Nicht interessiert.«
»Nicht interessiert? Wissen Sie, wie viele Jungs in diesem Land alles dafür geben würden, diesem Team angehören zu dürfen?«
»Gehen Sie los und fragen Sie sie.«
»Die anderen will ich nicht. Ich will Sie.«
»Warum mich?«
»Weil Sie begabt sind. Weil Sie Sprachkenntnisse haben. Sie haben einen klaren Kopf. Sie trinken nicht, Sie rauchen kein Hasch. Sie sind kein Verrückter, der unüberlegt handelt und sich und andere gefährdet.«
Und weil Sie die emotionale Kälte eines Killers besitzen, dachte Schamron, ohne es jedoch auszusprechen. Statt dessen erzählte er ihm eine Geschichte, die Geschichte eines jungen Geheimdienstagenten, der für einen Spezialauftrag ausgewählt worden war, weil er eine spezielle Gabe besaß: außergewöhnliche Körperkräfte für einen so kleinen Mann. Die Geschichte von einer Nacht in einem Vorort von Buenos Aires, in der dieser junge Geheimdienstagent einen Mann an einer Bushaltestelle hatte warten sehen. Er hat dort wie ein gewöhnlicher Mann gewartet, Gabriel. Wie ein gewöhnlicher, erbärmlicher kleiner Mann.
Und wie dieser junge Geheimdienstagent aus einem Wagen gesprungen war und den Mann an der Kehle gepackt hatte, wie er auf ihm gesessen hatte, als der Wagen davongerast war, und wie er seinen Angstschweiß
Weitere Kostenlose Bücher