Der Engländer
gerochen hatte. Den gleichen Angstschweiß, den die Juden vergossen hatten, als dieser erbärmliche kleine Mann sie in die Gaskammern geschickt hatte. Und das hatte gewirkt, wie Schamron es erwartet hatte. Denn Gabriel war der einzige Sohn zweier Auschwitzüberlebender, und ihre Narben waren auch seine.
Er war plötzlich sehr müde. Das mußte man sich vorstellen: All diese Jahre, all diese Morde, und nun saß er erstmals hinter Gittern - wegen eines Mordes, den er nicht verübt hatte. Du sollst dich nicht erwischen lassen! Lautete Schamrons elftes Gebot. Du sollst alles tun, um einer Verhaftung zu entgehen. Du sollst notfalls das Blut Unschuldiger vergießen. Nein, dachte Gabriel. Du sollst kein unschuldiges Blut vergießen.
Gabriel kniff seine Augen fest zusammen und versuchte zu schlafen, aber das war zwecklos: Petersons ständig brennendes Licht hielt ihn wach. Auch am King Saul Boulevard brannten bestimmt noch viele Lichter. Und irgend jemand würde telefonieren. Weckt ihn nicht, dachte Gabriel, denn ich will sein Lügengesicht nie wieder sehen. Laßt ihn schlafen. Laßt den alten Mann schlafen.
Wenige Minuten nach acht Uhr betrat Peterson Gabriels Zelle.
Wie spät es war, wußte Gabriel, doch nicht etwa, weil Peterson sich die Mühe machte, es ihm zu sagen, sondern weil er einen Blick auf dessen große Taucheruhr werfen konnte, als der andere aus seinem mitgebrachten Kaffeebecher trank.
»Ich habe mit Ihrem Chef gesprochen.«
Er machte eine Pause, um zu sehen, ob seine Worte irgendeine Reaktion auslösten, aber Gabriel schwieg weiter.
Seine Position war, er sei von Beruf Restaurator, sonst nichts, und Herr Peterson sei das bedauerliche Opfer einer vorübergehenden geistigen Verwirrung.
»Er hat mir die kollegiale Höflichkeit erwiesen, nicht zu versuchen, sich durch Lügen aus dieser Situation herauszuwinden. Ich erkenne an, daß er sich professionell verhalten hat. Auch Bern scheint kein Interesse daran zu haben, diese Sache weiterzuverfolgen.«
»Welche Sache meinen Sie?«
»Ihre Verwicklung in die Ermordung Ali Hamidis«, sagte Peterson kalt. Gabriel hatte den Eindruck, er bemühe sich, gewalttätige Gedanken zu unterdrücken. »Da eine Anklage in der Mordsache Rolfe unweigerlich Ihre schmutzige Vergangenheit zutage fördern würde, bleibt uns nichts anderes übrig, als auch diese Ermittlungen gegen Sie einzustellen.«
Peterson war mit der Entscheidung seiner Vorgesetzten in Bern offensichtlich nicht einverstanden.
»Ihre Regierung hat uns versichert, daß sie keinem der israelischen Geheimdienste mehr angehören und in keiner offiziellen Funktion nach Zürich gekommen sind. Meine Regierung hat es vorgezogen, diese Zusicherungen für bare Münze zu nehmen. Sie will nicht zulassen, daß die Schweiz zu einer Bühne wird, auf der Israelis und Palästinenser die Schrecken der Vergangenheit Wiederaufleben lassen.«
»Wann kann ich gehen?«
»Ein Vertreter Ihrer Regierung kommt Sie abholen.«
»Ich würde mich gern umziehen. Kann ich meinen Koffer haben?«
»Nein.«
Peterson richtete sich auf, rückte seine Krawatte zurecht und fuhr sich mit einer Hand übers Haar. Gabriel hielt das für eine merkwürdig intime Geste eines Mannes in Gegenwart eines anderen. Dann trat er an die Zellentür, klopfte und wartete, bis aufgesperrt wurde.
»Ich mag keine Mörder, Mr. Allon. Besonders nicht, wenn sie in staatlichem Auftrag morden. Zu den Bedingungen für Ihre Freilassung gehört, daß Sie nie wieder einen Fuß auf Schweizer Boden setzen. Kommen Sie jemals zurück, sorge ich dafür, daß Sie unser Land nie mehr verlassen.«
Die Tür öffnete sich. Peterson wollte hinausgehen, aber dann drehte er sich noch einmal nach Gabriel um. »Wirklich eine Schande, was Ihrer Frau und Ihrem Sohn in Wien zugestoßen ist. Es muß schrecklich sein, mit dieser Erinnerung leben zu müssen. Bestimmt wünschen Sie sich manchmal, Sie hätten an ihrer Stelle in dem Wagen gesessen. Guten Tag, Mr. Allon.«
Es wurde Spätnachmittag, bis Peterson sich endlich dazu herbeiließ, Gabriel zu entlassen. Kommissar Baer holte ihn aus der Arrestzelle ab; er unterzog sich dieser Pflicht schweigend, als sei Gabriel statt in die Freiheit zum Galgen unterwegs. Baer übergab ihm seinen Lederkoffer, sein Künstlermaterial und einen dicken honiggelben Umschlag mit seinen persönlichen Dingen. Gabriel ließ sich Zeit, während er kontrollierte, ob seine Sachen wirklich alle da waren. Baer sah angelegentlich auf seine Armbanduhr, als stehe er
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