Der Engländer
Detailbesessenheit und den nie ermüdenden Ehrgeiz, selbst scheinbar banale Arbeiten zum Abschluß zu bringen. Er verließ sein Atelier nie, bevor sein Tisch und seine Malutensilien tadellos aufgeräumt waren; er ging nie zu Bett, solange noch schmutziges Geschirr im Ausguß stand. Und er ließ nie ein Gemälde halb fertig zurück, selbst wenn er einen Auftrag nur zur Tarnung für andere Aktivitäten übernommen hatte. Für Gabriel war ein zur Hälfte restauriertes Bild kein Kunstwerk mehr, sondern nur eine auf Holz oder Leinwand geschmierte Ansammlung von Ölen und Pigmenten.
Augustus Rolfes Leiche, die vor dem Raffael gelegen hatte, glich einem nur halb restaurierten Gemälde. Es würde nicht wieder ganz werden, bevor Gabriel wußte, von wem und warum er ermordet worden war.
»Was soll ich also tun?«
»Mit ihr reden.«
»Warum ich?«
»Sie scheint ein ziemliches Künstlertemperament zu haben.«
»Soviel ich gehört habe, ist das eine Untertreibung.«
»Sie sind auch Künstler, Gabriel. Sie sprechen ihre Sprache.
Vielleicht vertraut sie Ihnen genug, um Ihnen zu erzählen, was sie über die Angelegenheiten ihres Vaters weiß. Schlägt Ihr Versuch fehl, können Sie in Ihr Atelier zurückkehren, und ich belästige Sie nie wieder.«
»Versprechungen, Versprechungen.«
»Sie brauchen nicht beleidigend zu werden, Gabriel.«
»Als Sie letztes Mal bei mir aufgekreuzt sind, hätte mich das fast das Leben gekostet.«
»Das stimmt, aber zumindest haben Sie sich nicht gelangweilt.«
»Peterson sagt, daß ich nicht in die Schweiz zurückkommen darf. Wie soll ich dann mit Anna Rolfe reden?«
»Sie weigert sich anscheinend, in der Schweiz zu leben.«
Schamron gab ihm einen Zettel. »Das hier ist ihre Künstleragentur in London. Lassen Sie ihr ein paar Tage Zeit, ihren Vater zu begraben. Sie machen's also?«
»Nicht für Sie. Ich will wissen, wer versucht hat, mir den Mord an Rolfe anzuhängen. Wer soll ich sein, wenn ich mit Anne Rolfe spreche?«
»Sie wissen, daß ich immer für die subtile Methode bin, aber das überlasse ich diesmal Ihnen. Tun Sie, was Sie für richtig halten.«
Gabriel steckte die Adresse ein. Über Schamrons Gesicht zog ein flüchtiges Lächeln. Er wußte aus langer Erfahrung, daß berufliche Siege, selbst wenn es kleine waren, genossen werden mußten. Die Limousine hielt vor dem Abfertigungsgebäude unter der Leuchtreklame von British Airways. Gabriel stieg aus, holte sein Gepäck aus dem Kofferraum und blieb damit vor Schamrons offenem Fenster stehen.
»Wir haben noch nicht über Ihr Honorar gesprochen«, sagte Schamron.
»Keine Sorge, es wird ansehnlich hoch sein.«
»Sie können ab sofort Spesen abrechnen, aber denken Sie daran, daß durch Geldverschwendung noch nie ein Fall gelöst worden ist.«
»Ich werde über diese Perle der Weisheit nachdenken, wenn ich heute abend erster Klasse nach London zurückfliege.«
Schamron verzog säuerlich das Gesicht. »Halten Sie mich auf dem laufenden. Die üblichen Kanäle und Methoden. Sie erinnern sich daran?«
»Wie könnte ich die je vergessen?«
»Das war eine sehr beachtliche Leistung, finden Sie nicht auch?«
»Was denn?«
»Einen Mann binnen einer Dreiviertelstunde aufzuspüren, nachdem er den Tatort eines Mordes verlassen hat. Ich frage mich, wie Herr Peterson das geschafft hat. Er muß wirklich gut sein.«
6 - NIDWALDEN, SCHWEIZ
Innerhalb der Sektion Aufklärung/Abwehr galt Gerhardt Peterson als der kommende Mann. Vorgesetzte behandelten ihn behutsam. Untergebene welkten unter seinem kalten Blick.
Seine Kollegen betrachteten ihn mit Neid und Bewunderung.
Wie hatte der Sohn eines kleinen Lehrers aus Erstfeld in solche Höhen aufsteigen können? Seht ihn euch bloß an! Nie ein Haar in Unordnung! Nie eine gelockerte Krawatte! Er trägt Macht und Erfolg wie sein teures Rasierwasser. Peterson unternahm nie etwas, das nicht darauf angelegt war, seine Karriere zu fördern. Sein Familienleben war so adrett und ordentlich wie sein Büro. Seine Liebesaffären waren diskret und standesgemäß.
Wer töricht genug war, sich ihm in den Weg zu stellen, entdeckte sehr schnell, daß Gerhardt Peterson ein Mann mit mächtigen Freunden war. Freunden in Bern. Freunden bei den Banken. Er würde bald zum Sektionschef aufsteigen - darüber waren sich alle einig. Dann eine Führungsposition im Bundespolizeiamt. Und eines Tages vielleicht die Leitung des gesamten Justiz-und Polizeidepartements. Peterson hatte Freunde in Bankenkreisen. Und sie
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