Der Engländer
und kühl.
Über ihrem Hocker hing an einem verchromten Gestell ein Mikrophon in Profiqualität, das mit einem in Deutschland hergestellten Rekorder verbunden war. Heute hatte sie viele ihrer Übungsstücke aufgezeichnet. Sie spulte das Tonband zurück, während sie ihre Guarneri wieder in den Geigenkasten legte und ihre Noten ordnete.
Ihr war immer unbehaglich zumute, wenn sie sich selbst spielen hörte, aber diese Aufnahmen hatte sie aus einem ganz bestimmten Grund gemacht. Sie wollte genau wissen, wie ihr Spiel klang - welche Passagen der einzelnen Stücke akzeptabel waren, an welchen sie noch arbeiten mußte. Was sie diesmal hörte, gefiel ihr zum größten Teil, aber in den zweiten und dritten Sätzen gab es einige Stellen, an denen ihr überkritisches Ohr die Nachwirkungen ihrer langen Zwangspause zu hören glaubte. Wenn sie heute abend wieder übte, würde sie sich nur auf diese Passagen konzentrieren. Aber vorerst ging es ihr darum, auf andere Gedanken zu kommen.
Sie ging in ihr Schlafzimmer hinüber, nahm einen blaßgelben leichten Pullover aus einer Kommodenschublade und hängte ihn sich über die Schultern. Dann ging sie nach unten. Wenig später schloß sie das eiserne Tor an der Zufahrt hinter sich und folgte dem kurvenreichen Fahrweg ins Dorf hinunter. Auf halber Strecke sah sie einen kleinen Fiat-Kombi, der eben das Wäldchen verließ und ihr bergauf entgegenkam. In dem Wagen saßen vier Männer, die offenbar keine Portugiesen waren. Anna trat zur Seite, um den Fiat vorbeifahren zu lassen, aber er hielt neben ihr, und der Mann auf dem Beifahrersitz stieg aus.
»Miss Rolfe?« fragte er auf englisch.
»Wer will das wissen?«
»Sie sind Miss Anna Rolfe, stimmt's?«
Sie nickte.
»Wir sind Freunde von Gabriel.«
In Marseille ließ der Engländer seinen Leihwagen in der Nähe der Abtei St.Victor stehen und ging durch düstere Straßen zum Fährhafen weiter. Als das Schiff das stille Wasser des Hafens zerfurchte, stieg er zu seiner Einbettkabine hinunter. In der Kabine streckte er sich auf seiner schmalen Koje aus und hörte die Abendnachrichten von Radio Marseille. Der Bombenanschlag auf die Galerie Müller in Paris war der Aufmacher. Pascal Debrés Sprengsatz hatte Unbeteiligte das Leben gekostet - eine Tatsache, die bewirkte, daß der Engländer sich mehr als Terrorist und weniger als Profi fühlte. Morgen würde er die alte signadora aufsuchen, und sie würde den occhju mit ihren Ritualen und Gebeten vertreiben und ihn von seinen Sünden lossprechen, wie sie es immer tat.
Er stellte das Radio ab. Obwohl er übermüdet war, hatte er den Wunsch nach einer Frau. So war es immer, wenn er einen Auftrag durchgeführt hatte. Als er die Augen schloß, erschien Elizabeth vor ihm - Elizabeth Conlin, die hübsche junge Katholikin aus der Wohnsiedlung Ballymurphy im nordirischen West-Belfast. Sie hatte die Instinkte einer Geheimagentin besessen. Konnten sie sich gefahrlos treffen, hängte sie einen violetten Schal ans Fenster ihres Zimmers, und der Engländer kletterte durchs Fenster zu ihr hinein und in ihr Bett. Dann liebten sie sich qualvoll langsam, damit die übrigen Familienmitglieder nicht aufwachten. Der Engländer hielt ihr dabei den Mund mit seiner Hand zu, um ihre Schreie zu dämpfen. Einmal biß sie ihn so fest in den Daumen, daß er blutete und sein Blut ihr Bettlaken befleckte. Anschließend lag er neben ihr im Dunkeln und ließ sie flüsternd erzählen, warum sie aus Belfast wegwollte - weg von den Bombenlegern und den britischen Soldaten, den IRA-Terroristen und den protestantischen Milizen. Und wenn sie glaubte, er schlafe, hörte er sie leise einen Rosenkranz beten - ihre Buße dafür, daß sie den Versuchungen des Körpers des Engländers nachgegeben hatte. Der Engländer gestattete sich nie, in Elizabeth Conlins Bett zu schlafen.
Als er eines Nachts wieder durch ihr Fenster kletterte, wurde er nicht von Elizabeth, sondern von ihrem Vater und zwei IRA-Schlägern erwartet. Irgendwie hatten sie die Wahrheit über den Engländer herausbekommen. Er wurde zu einem einsamen Farmhaus gefahren, um dort ausgiebig und schmerzhaft vernommen und anschließend hingerichtet zu werden. Im Gegensatz zu den meisten, die in diese Situation gerieten, schaffte es der Engländer, das Farmhaus lebend zu verlassen.
Vier IRA-Angehörige blieben tot zurück.
Der Engländer wurde innerhalb weniger Stunden aus der Provinz und in Sicherheit gebracht. Elizabeth Conlin erging es weniger gut. Ihre Leiche wurde am
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