Der Engländer
aus geschliffenem Glas. Auf einem Bett aus Asche lagen ein Dutzend Zigarettenstummel kreuz und quer wie verschossene Patronen durcheinander. Er betrachtete sie genauer. Zwei unterschiedliche Marken. Die meisten waren englische Zigaretten der Marke Benson & Hedges, aber dazwischen lagen auch drei Silk Cuts. Die Benson & Hedges hatte vermutlich der Alte geraucht, aber wem gehörten die Silk Cuts? Anna? Nein, Anna rauchte nur Gitanes.
Gabriel konzentrierte sich wieder auf die Provenienzen, deretwegen er hier war. Anna hatte gesagt, Rolfe habe sie in der Schreibtischschublade unten rechts in einem Ordner mit der Aufschrift PRIVATKORRESPONDENZ aufbewahrt. Die Schublade war wie die Tür von Rolfes Arbeitszimmer abgesperrt. Diesmal hatte er jedoch einen Schlüssel. Er zog die Schublade auf und machte sich daran, Augustus Rolfes Privatpapiere durchzublättern.
Dabei stieß er auf ein Dossier mit der Aufschrift MAXIMILIAN. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, dann zögerte er. War er befugt, sich dieses Dossier anzusehen?
Eigentlich erschien ihm das wie Voyeurismus. Als ob man bei einem Abendspaziergang in der Stadt durch ein beleuchtetes Fenster blickte und heimlich ein sich streitendes Paar beobachtete. Oder einen alten Mann, der einsam vor dem Fernseher hockte. Aber versprach dieses Dossier nicht aufschlußreich zu sein? Was hatte dieser Mann als Andenken an seinen Sohn aufbewahrt? Was konnte er daraus über den Menschen Augustus Rolfe lernen?
Er zog das Dossier heraus, legte es quer über die offene Schublade und schlug es auf. Photos, Ausschnitte aus dem Sportteil großer europäischer Zeitungen, Nachrufe von Mannschaftskameraden, ein langer Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung über den tragischen Unfall bei der Tour de Suisse - »Er war ein guter Mann, und ich bin stolz darauf, daß er mein Sohn war«, sagt Augustus Rolfe, ein prominenter Züricher Bankier, in einer von seinem Anwalt verbreiteten Pressemitteilung. »Er wird mir mehr fehlen, als es sich mit Worten ausdrücken läßt.« Alles ordentlich gesammelt, pedantisch datiert und beschriftet. Auch wenn Rolfe vielleicht nicht mit Maximilians Berufswahl einverstanden gewesen war, schien er Stolz für seinen Sohn empfunden zu haben.
Gabriel klappte den Ordner zu, legte ihn an seinen Platz zurück und blätterte weiter in den Privatpapieren des Bankiers.
Dabei fiel sein Blick auf ein weiteres Dossier: ANNA. Wieder zögerte er, dann nahm er auch diesen Ordner heraus. Das Dossier enthielt Kinderphotos von Anna beim Geigenspiel, Einladungen zu Orchester-und Solistenkonzerten, Zeitungsausschnitte, Besprechungen ihrer Konzerte und CD-Aufnahmen. Er sah sich die Photos genauer an. Sie zeigten eindeutig zwei verschiedene Mädchen - Anna vor dem Selbstmord ihrer Mutter und Anna danach. Erstaunlich, wie sehr ihr Aussehen sich damals verändert hatte.
Auch dieses Dossier wanderte in die Schublade zurück. Es wurde Zeit, daß er sich auf den eigentlichen Zweck seines Besuches konzentrierte. Gabriel durchsuchte den Stapel, bis er einen Ordner fand, der mit PRIVATKORRESPONDENZ bezeichnet war. Er zog ihn heraus, legte ihn auf Rolfes Schreibtisch und schlug ihn auf. Briefe, teils in Handschrift, teils auf Papier mit gedrucktem Briefkopf mit der Maschine geschrieben. Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch - ein für die Schweiz charakteristischer mehrsprachiger Flickenteppich.
Gabriel blätterte den Inhalt des Ordners rasch durch, bis er am Ende des Stapels angelangt war. Dann fing er noch mal von vorn an und wiederholte diesen Vorgang langsamer. Das Ergebnis war dasselbe.
Die Provenienzen waren verschwunden.
Als Gabriel den Lichtstrahl seiner Stablampe durch Rolfes Arbeitszimmer gleiten ließ, dachte er an eine Übung während seiner Ausbildung an der Geheimdienstakademie. Ein Ausbilder hatte ihn in einen wie eine Hotelsuite eingerichteten Raum geführt, ihm ein Schriftstück in die Hand gedrückt und ihm eine Minute Zeit gelassen, fünf geeignete Verstecke dafür zu finden.
Hätte diese Übung nicht in einer angeblichen Hotelsuite, sondern hier in Rolfes Arbeitszimmer stattgefunden, hätte er hundert Verstecke für ein Schriftstück finden können. Unter einem herausnehmbaren Parkettstreifen, in einem großformati-gen Buch, unter einem der Sessel oder Teppiche, in irgendeinem Möbelstück, in einem getarnten Wandsafe eingeschlossen. Und das waren nur die Möglichkeiten, die das Arbeitszimmer bot. In seiner weitläufigen Villa hatte Rolfe die Wahl
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