Der Engländer
KRAMER - HELLER ENTERPRISES
hoch. Gabriel folgte ihm durchs Ankunftsgebäude und bei leichtem Schneetreiben über den Parkplatz, bis sie einen dunkelblauen Mercedes erreichten.
»Im Handschuhfach liegt eine Beretta, und in der Tüte auf dem Rücksitz sind ein paar Sandwiches.«
»Ihr bodlim denkt an alles.«
»Wir leben, um zu dienen.« Er gab Gabriel die Autoschlüssel.
»Bon voyage.«
Gabriel setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Wenige Minuten später war er in flottem Tempo auf der A92 unterwegs, um zur A96 zu gelangen, die ihn wieder nach Zürich bringen würde.
Die Schweizer sind ein in selbstgewählter Isolation lebendes Stammesvolk, das es mit geradezu animalischem Instinkt versteht, alles Fremde aufzuspüren. Alles irgendwie Ungewöhnliche, und sei es noch so trivial, wird der Polizei gemeldet. Tatsächlich sind die Schweizer Bürger so wachsam, daß im Land operierende ausländische Geheimdienste sie als zusätzlichen Schweizer Sicherheitsdienst betrachten. Da Gabriel sich dieser Tatsache bewußt war, achtete er sorgfältig darauf, ungezwungene Vertrautheit zu projizieren, als er aus dem Mercedes stieg und zu Augustus Rolfes Villa hinaufging.
Er dachte an ein Unternehmen des Dienstes, das vor einigen Jahren gründlich schiefgegangen war. Ein Agententeam war in die Schweiz entsandt worden, um in einer Kleinstadt bei Bern in der Wohnung eines mutmaßlichen arabischen Terroristen Wanzen zu installieren. Eine alte Dame beobachtete das Team vor dem Apartmentgebäude des Arabers und rief die Polizei an, um zu melden, in ihrer Straße treibe sich eine Gruppe verdächtiger Männer herum. Wenige Minuten später war das Team verhaftet, und die Nachricht von diesem Fiasko machte weltweit die Runde.
Gabriel ging den Rosenbühlweg hinauf. Über ihm ragte die vertraute Silhouette der Villa Rolfe mit ihren Türmchen und dem Säulenvorbau über dem Eingang auf. Ein Wagen fuhr an ihm vorbei und hinterließ parallele schwarze Streifen im Neuschnee.
Auf dem Tastenfeld in der Torsäule gab er den ersten Sicherheitscode ein. Der elektrische Toröffner summte, und der Schloßbolzen wurde zurückgezogen. Gabriel stieß das Tor auf und folgte dem Natursteinweg. Zwei Minuten später befand er sich in Rolfes Villa und durchquerte mit einer kleinen Stabtaschenlampe in der Linken und seiner Beretta in der Rechten fast lautlos die dunkle Eingangshalle.
Auf dem Korridor im ersten Stock herrschte absolute Dunkelheit. Gabriel folgte dem bleistiftdünnen Lichtstrahl seiner Stablampe. Das Arbeitszimmer lag im Flur links, hatte Anna gesagt - zur Straße hinaus, die erste Tür hinter der römischen Büste. Gabriel drückte die Klinke herab. Abgesperrt. Aber natürlich! Er holte zwei kleine Stahlwerkzeuge aus seiner Manteltasche. Gott, wie lange war das schon her? Auf der Akademie, vor hundert Jahren. Er war noch ein unerfahrener Rekrut gewesen, und Schamron hatte die ganze Zeit über ihn gebeugt dagestanden und ihn zur Eile gedrängt. »Sie haben noch genau fünfzehn Sekunden Zeit! Ihre Teamkameraden sind tot, wenn Sie diese Tür nicht aufbekommen, Gabriel!«
Er ließ sich auf ein Knie nieder, schob die Werkzeuge ins Schlüsselloch und machte sich mit zwischen den Zähnen gehaltener Stablampe an die Arbeit. Plötzlich fühlte er sich wie ein Dieb. Wenige Augenblicke später gab das alte Türschloß unter seinem fingerfertigen Angriff den Kampf auf. Gabriel kam wieder auf die Beine, betrat den Raum und schloß die Tür hinter sich.
In Rolfes Arbeitszimmer roch es nach Holzrauch, Hund und schwach nach Tabak. Gabriel schwenkte langsam seine Stablampe und sah sich um. Ihr winziger Lichtfleck bewirkte, daß er den Raum nur in quadratmetergroßen Segmenten wahrnahm. Ein Sitzbereich mit Sesseln aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Eichenholzschreibtisch im flämischen Renaissancestil. Bücherregale, die vom versiegelten Parkettboden bis hinauf zur Stuckdecke reichten.
Augustus Rolfes Schreibtisch.
Eigenartig, denn er sah nicht wie der Schreibtisch eines mächtigen Mannes, sondern eher wie der eines Gelehrten aus: aufgestapelte Akten, eine abgewetzte Schreibunterlage aus grünem Leder, eine Teetasse voller Büroklammern, ein Stapel alter Bücher. Gabriel hob den Deckel des obersten Bandes mit einem Zeigefinger hoch. Der Geruch von Staub und altem Papier stieg ihm in die Nase. Er ließ den Lichtschein über die Titelseite huschen. Goethe.
Als er das Buch wieder zuklappte, fiel sein Blick auf einen großen Aschenbecher
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