Der Engländer
Informationen, die britische und französische Dienste aufgrund von Gegenseitigkeitsabkommen geliefert hatten.
Es handelte von einem Mann namens Christopher Keller.
Gabriel schnappte sich die Blätter aus der Ablage, setzte sich an den Tisch und begann zu lesen.
Christopher Keller, das einzige Kind eines in der Londoner Harley Street praktizierenden erfolgreichen Arztehepaars, ließ schon sehr früh erkennen, daß er nicht die Absicht hatte, in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Er begeisterte sich für Geschichte, vor allem für Militärgeschichte, und wollte unbedingt Soldat werden. Seine Eltern verboten ihm, zum Militär zu gehen, und er fügte sich ihren Wünschen, zumindest vorläufig. Er schrieb sich in Cambridge ein und begann, Geschichte und orientalische Sprachen zu studieren. Er war ein brillanter Student, aber im zweiten Studienjahr wurde er unruhig und verschwand eines Nachts spurlos. Einige Tage später tauchte er in seinem Elternhaus in Kensington auf: mit militärisch kurz geschnittenem Haar und in olivgrüner Uniform.
Keller war als Freiwilliger zur britischen Armee gegangen.
Nach der Grundausbildung kam er zu einem Infanterieregiment, aber durch seinen Intellekt, seine athletische Konstitution und sein Einzelgängertum setzte er sich bald von seinen Kameraden ab. Es dauerte nicht lange, bis ein Anwerber vom Special Air Service sich bei ihm meldete. Der SAS-Offizier hatte sich Kellers Personalakte angesehen und mit seinen Vorgesetzten gesprochen. Keller wurde nach Hereford eingeladen, wo das SAS-Regiment stationiert war, um dort an einem Auswahllehrgang teilzunehmen.
Kellers Leistungen waren überragend. Seine Ausbilder für unbewaffneten Nahkampf schrieben, sie hätten noch nie einen Mann mit solchem natürlichen Killerinstinkt gesehen. Im berüchtigten »Killing House«, in dem die Rekruten Nahkampf, Geiselrettung und Säuberung besetzter Gebäude übten, erzielte Keller die Höchstpunktzahlen. Am Schlußtag marschierte er mit Sturmgewehr und zwanzig Kilo Gepäck vierzig Meilen weit über das als Brecon Beacons bekannte windumtoste Moorland - ein Gewaltmarsch, bei dem es schon Tote gegeben hatte. Keller bewältigte die Strecke eine halbe Stunde schneller als der bisherige Rekordhalter. Er wurde ins Regiment aufgenommen und einem auf mobile Wüstenkriegsführung spezialisierten Sabre-Bataillon zugeteilt.
Dann änderte seine Karriere abrupt ihre Richtung. Wieder erschien ein Offizier auf der Bildfläche - diesmal vom militärischen Nachrichtendienst. Er suchte einzigartig begabte Soldaten, die in Nordirland für Nahüberwachung und weitere Sonderaufträge eingesetzt werden konnten. Er sagte, er sei von Kellers Sprachbegabung und seiner Fähigkeit beeindruckt, rasche Entscheidungen zu treffen und notfalls zu improvisieren.
Hatte Keller Interesse daran, sich zu verändern? Noch an diesem Abend packte er seine Sachen zusammen und verließ Hereford, um in ein Geheimlager im schottischen Hochland zu fahren.
Während seiner Ausbildung ließ Keller ein bemerkenswertes Talent erkennen. Die britischen Sicherheits-und Geheimdienste schlugen sich seit Jahren mit den unzähligen Dialekten herum, die in Nordirland gesprochen werden. Die Konfliktparteien in Ulster konnten einander allein durch ihren Tonfall identifizieren.
Im katholischen West-Belfast wurde ein anderer Dialekt gesprochen als im protestantischen West-Belfast, in der Upper Falls Road ein anderer als in der Lower Falls Road. Wie ein Mann ein paar einfache Sätze aussprach, konnte den Unterschied zwischen Leben und einem grausigen Tod bedeuten. Keller entwickelte die Fähigkeit, diese Intonationen perfekt nachzuahmen. Er konnte sogar blitzschnell den Dialekt wechseln - eben noch ein Katholik aus Armagh, im nächs ten Augenblick ein Protestant aus der Belfaster Shankill Road, dann ein Katholik aus der Wohnsiedlung Ballymurphy. So arbeitete er über ein Jahr in Belfast, spürte IRA-Mitglieder auf und sammelte bei Katholiken und Protestanten nützliche Informationen. Er arbeitete stets allein und fast ohne Aufsicht durch seinen Führungsoffizier beim militärischen Nachrichtendienst.
Sein Einsatz in Nordirland fand ein abruptes Ende, als er eines Nachts aus West-Belfast entfü hrt und in ein abgelegenes Farmhaus im County Armagh verschleppt wurde. Dort wurde er beschuldigt, ein britischer Spion zu sein. Keller wußte, daß seine Lage hoffnungslos war, deshalb beschloß er, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Als er das
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