Der Engländer
zwischen Hunderten von Verstecken für einen kleinen Stapel Schriftstücke gehabt. Immerhin war dies der Mann, der für seine geheime Kunstsammlung einen unterirdischen Bunker hatte bauen lassen. Hatte Rolfe irgend etwas verstecken wollen, waren Gabriels Chancen, es rasch zu finden, praktisch gleich Null.
Die Vorstellung, Zürich nach einer so schwierigen und gefährlichen Reise mit leeren Händen verlassen zu müssen, erbitterte Gabriel. Für das Verschwinden der Provenienzen gab es zwei mögliche Erklärungen. Erstens: Sie waren aus dem Ordner genommen worden von Rolfe oder jemandem wie Werner Müller. Zweitens: Rolfe hatte sie irgendwo verlegt. Das war durchaus denkbar. Er war ein alter Mann. Alte Männer machen Fehler. Ihr Gedächtnis wird schlechter. Bei nach-lassender Sehkraft sind alte Aufschriften schwieriger zu lesen.
Gabriel beschloß, den Schreibtisch gründlich zu durchsuchen.
Es gab vier Aktenschubladen, zwei auf jeder Seite, und Gabriel fing links oben an. Er verfiel in eine monotone Routine: jeweils einen Ordner herausnehmen, seinen Inhalt sorgfältig durchblättern, den Ordner zurücklegen, den nächsten herausnehmen.
Er brauchte eine halbe Stunde, um alle vier Schubladen zu durchsuchen.
Nichts.
Gabriel zog die mittlere Schublade auf: Kugelschreiber, Bleistifte, Notizzettel, eine Leimflasche, ein kleines Gerät, mit dem sich Büroklammern entfernen ließen. Und ein Diktiergerät.
Er nahm es heraus und inspizierte es im Licht seiner Stablampe.
Es enthielt keine Tonbandkassette. Auch in der Schublade war keine zu finden. Ein Diktiergerät, aber keine Kassetten.
Merkwürdig.
Er schloß die Schublade, sank auf Rolfes Drehsessel und starrte den Schreibtisch an. Die mittlere Schublade… irgend etwas stimmte mit ihr nicht. Er zog sie auf, sah hinein und schob sie wieder zu. Auf, zu. Auf, zu …
Die Schublade war außen ungefähr zehn Zentimeter hoch, aber innen viel flacher. Fünf Zentimeter hoch, schätzte Gabriel, vielleicht sogar weniger. Er versuchte, die Schublade ganz herauszuziehen, aber das verhinderte eine Sperre. Er zog fester daran. Wieder erfolglos.
Gabriel sah auf seine Uhr. Er war seit einer Dreiviertelstunde in der Villa, wahrscheinlich länger als ratsam war. Jetzt mußte er sich entscheiden: verschwinden oder auf seinen Instinkt vertrauen.
Er stand auf, packte die Schublade mit beiden Händen und ruckte kräftig daran. Die Sperre gab nach, und die Schublade polterte zu Boden, wobei sie ihren Inhalt verstreute.
Gabriel hob die nun leere Schublade auf und wog sie prüfend in den Händen. Massiv, solide Tischlerarbeit, ungewöhnlich schwer. Er begutachtete ihre Unterseite. Der Boden war ziemlich dick - schätzungsweise zwei Zentimeter.
Verschwinden oder auf deinen Instinkt vertrauen?
Es gab keine gewaltlose Untersuchungsmethode, nicht wenn er die Antwort schnell brauchte. Gabriel lehnte die Schublade an den Schreibtisch, veränderte nochmals den Winkel. Dann hob er seinen rechten Fuß und trat zu. Einmal, zweimal und ein drittes Mal, bis das Holz zu zersplittern begann.
Der Boden der Schublade bestand nicht aus einem Brett, sondern aus zwei aufeinandergelegten und verleimten Brettern mit identischen Maßen. Zwischen ihnen lag ein bereits vergilbter großer Kartonumschlag, dessen Klappe auf altmodische Weise mit einem Stück fadenscheinigem Zwirn gesichert war. Die Provenienzen? Das wäre erstaunlich viel Aufwand für bloße Herkunftsnachweise gewesen. Gabriel bog die Holztrümmer auseinander und zog den Umschlag heraus.
Ein Zittern durchlief seine Finger, als er den Faden abwickelte und die Umschlagklappe öffnete.
Er zog Schriftstücke heraus - hauptsächlich alte Durchschläge auf dünnem Papier - und legte sie auf den Schreibtisch. Dann blätterte er sie vorsichtig durch, als fürchte er, sie könnten unter seiner Berührung zerfallen. Schwedenkronen… Peseten… Escudos… Pfund Sterling…
Die Dokumente waren Durchschriften von Wechselquittungen und Banküberweisungen während des Zweiten Weltkriegs. Er sah sich die Daten an. Die erste Transaktion, eine Überweisung von mehreren tausend Schweizer Franken auf die Unionsbank in Stockholm, hatte im Februar 1942 stattgefunden. Die letzte Überweisung, die an eine Bank in Lissabon gegangen war, trug ein Datum vom Juni 1944.
Gabriel legte die Durchschläge beiseite. Das nächste Dokument bestand aus einem weißen Blatt Papier ohne Briefkopf. Links stand eine mit der Hand geschriebene Liste mit ausschließlich deutschen
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