Der Entertainer
entkommen ist, als er aus dem Gully kam.«
Mochte die Stadt auch noch so groß und unübersichtlich sein, die Taten des Entertainers sprachen sich sehr schnell herum. Wurde mal wieder eine schrecklich zugerichtete Leiche gefunden, so verbreitete sich das wie ein Lauffeuer. Die Zeitungen berichteten in großen Lettörn. Der Entertainer war mittlerweile zu einem Held der Ärmsten aufgestiegen. Und jeder wartete gespannt auf eine neue Tat.
Maria Falanga war ernst geworden. »Und du findest es gut, wenn Menschen getötet werden?«
So direkt angesprochen, wollte der Junge keine Antwort geben. Er hob nur die Schultern.
Für die Lehrerin war es Antwort genug. Sie wußte, daß den Kindern der Tod gleichgültig war. Er gehörte eben zum Leben wie die Dealer in die Favelas.
»Nur sollte uns persönlich dieser grausame Mörder nicht interessieren, wir sind hergekommen, um zu lernen. Ich kann immer nur wiederholen, daß nur der eine Chance hat, aus dem Dreck hier herauszukommen, der auch Lesen und Schreiben kann. Wissen ist Macht, nicht die Waffe eines Killers. Das solltet ihr euch immer vor Augen halten, obwohl ich weiß, das es fast unmöglich ist.«
Sie erntete nur Desinteresse und wußte, daß sie an diesem Tag keinen Unterricht mehr halten konnte. Ihre Schützlinge waren zu sehr abgelenkt und noch unter dem Einfluß der Droge.
Einer der Jungen stand auf. Er hieß Peter. Wer ihm den Namen gegeben hatte, wuße er nicht.
»Wo willst du hin?«
»Ich muß weg.«
»Warum?«
»Sie werden mich holen.«
»Wer will dich holen?«
»Polizei.«
Er wollte gehen, aber Maria war schneller. An der Hand hielt sie den Jungen fest. »Darf ich erfahren, weshalb die Polizei dich holen will? Sag es mir.«
»Nein!«
»Hast du etwas getan?«
Der Blick des Jungen flackerte. »Nein, ich…«
»Du lügst.«
»Laß mich los!« schrie er, aber Maria ließ ihn nicht los.
Neben ihr sank Peter zu Boden. »Was ist genau geschehen?«
»Sie… sie kamen noch am frühen Morgen. Da haben sie meinen Bruder geholt, der ist drei Jahre älter.«
»Und?«
»Sie haben ihn zusammengeschlagen und weggeschleppt.«
»Wohin?«
»In das Schlachthaus.«
Maria schluckte, als der Junge diesen fürchterlichen Namen aussprach. Das Schlachthaus war der Name für das Gefängnis. Und wer von der Drogenpolizei dorthin gebracht worden war, hatte kaum Freundlichkeiten zu erwarten.
»Was hat dein Bruder getan?«
»Ich weiß es nicht. Aber sie haben gesagt, daß sie wiederkommen würden.«
»Zu euch?«
»Ja.«
»Gut, Peter.« Ohne den Jungen loszulassen, stand Maria Falanga auf.
»Ich werde mit dir gehen. Dann schauen wir gemeinsam nach, ob die Polizei bei euch wartet.«
»Danke.«
Maria Falanga wandte sich an die anderen Schüler. »Ihr könnt gehen. Und morgen will ich euch alle hier wiedersehen, ohne daß ihr geschnüffelt habt!«
Sie nickten, doch sie würden sich nicht an den Ratschlag halten. Es war das einzige ›Vergnügen‹, das Rios Kinder überhaupt besaßen. Maria ließ Peter nicht los, als sie aus der Hütte trat und umfangen wurde von einer dumpfen, schwülen, brütenden Hitze.
Maria wußte nicht, wo Peter wohnte. Sich in diesem Wirrwarr aus Elend zurechtzufinden, mußte gelernt sein. Es war ein kaputtes Durcheinander von ›Häusern‹ und Hütten. Über allem stand der Glutball der Sonne, und selbst die Vögel hingen fast bewegungslos am Himmel. Eine normale Straße oder ein Gehweg waren nicht vorhanden. Wenn es einmal so gewesen war, dann hatten die Bewohner dafür gesorgt, daß die Steine herausgerissen worden waren. An einigen Stellen hatte man versucht, die Straße zu asphaltieren, doch das Zeug war sehr schnell von der heißen Sonne aufgeweicht worden.
Die Menschen hockten oder standen vor und neben ihren Elendsquartieren. Sie sahen apathisch aus, die leeren Blicke in irgendwelche Fernen gerichtet oder auf Ziele, die sie nur in ihren Träumen sahen. Daß fette Fliegen über ihre verschwitzten Gesichter krochen, bekamen sie kaum mit.
Weiter oben klangen Schreie auf. Dann fielen Schüsse, danach war es still.
»Wohnst du dort?« fragte Maria.
Peter schüttelte den Kopf.
»Ist es noch weit?«
»Nein.«
Sie mußten gehen. Wer einen fahrbaren Untersatz, ein Rad, zum Beispiel, besaß, der war ein König. Und als Kaiser galt der, der ein Auto fuhr. Das aber konnten sich nur die Dealer aus der Rauschgiftmafia leisten, die wahren Herrscher der Elendsviertel, die hin und wieder die Armen mit Geld beschenkten, um sich ihre Sympathie
Weitere Kostenlose Bücher