Der entzauberte Regenbogen
Anhaltspunkte für die poetische Idee, das Leben sei im Kambrium in einem wilden Rausch der Vielfalt und Unterschiedlichkeit üppig und überschwänglich aufgeblüht, um später auf das heutige, eher beschränkte Repertoire der Tierformen zurückgestutzt zu werden. Wenn überhaupt, war es höchstens umgekehrt, wie die meisten Evolutionsexperten es auch erwarten würden.
Wo bleibt dabei die Frage nach den Zeitpunkten, zu denen sich die großen Stämme abspalteten? Wie gesagt: Das ist eine andere Frage als die nach der zweifellos explosionsartig zunehmenden Zahl verfügbarer Fossilien im Kambrium. Umstritten ist dabei, ob die Verzweigungspunkte für alle großen Stämme gehäuft im Kambrium liegen – das ist die Hypothese der Verzweigungspunkt-Explosion. Ich habe bereits erwähnt, dass diese Hypothese mit dem Neodarwinismus vereinbar ist. Für wahrscheinlich halte ich sie allerdings nicht.
Unter anderem kann man die Frage angehen, indem man molekulare Uhren untersucht. Der Begriff «molekulare Uhr» geht auf die Beobachtung zurück, dass sich bestimmte biologische Moleküle im Laufe der Jahrmillionen mit einer ziemlich konstanten Geschwindigkeit verändern. Setzt man das voraus, kann man zwei beliebigen heutigen Tieren Blut abnehmen und berechnen, wie viel Zeit seit ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren vergangen ist. Einige neuere Untersuchungen mit molekularen Uhren haben die Verzweigungspunkte für mehrere Zweiergruppen von Stämmen bis tief in die präkambrische Epoche verschoben. Wenn solche Befunde stimmen, wird das ganze Gerede von einer Evolutionsexplosion überflüssig. Aber die Interpretation von Ergebnissen, die man mit Hilfe molekularer Uhren über so weit zurückliegende Zeiten gewinnt, ist umstritten, sodass wir auf weitere Befunde warten müssen.
Schon jetzt kann ich aber ein zuverlässigeres logisches Argument anbringen. Das einzige Indiz, das für die Hypothese der Verzweigungspunkt-Explosion spricht, ist negativ: Aus der Zeit vor dem Kambrium gibt es von vielen Stämmen keine Fossilien. Aber auch die fossilen Tiere, die keine fossilen Vorfahren hatten, müssen irgendwelche Vorfahren gehabt haben. Sie können nicht aus dem Nichts gekommen sein. Deshalb muss es Vorfahren gegeben haben, die keine Fossilien hinterlassen haben – fehlende Fossilien bedeuten nicht fehlende Tiere. Damit bleibt nur eine Frage: Drängten sich die fehlenden Vorfahren bis hin zu den Verzweigungspunkten, die es gegeben haben muss, im Kambrium zusammen, oder verteilten sie sich auf die vorangegangenen mehreren hundert Millionen Jahre? Da das Fehlen der Fossilien der einzige Grund für die Annahme ist, sie konzentrierten sich auf das Kambrium, und da wir gerade logisch bewiesen haben, dass dieses Fehlen bedeutungslos ist, gelange ich zu dem Schluss: Es gibt keinen sicheren Anhaltspunkt, der für die Hypothese der Verzweigungspunkt-Explosion spricht. Aber zweifellos hat sie großen poetischen Reiz.
9 Der egoistische Kooperator
Staunen … und nicht die Erwartung irgendeines Vorteils durch ihre Entdeckungen ist das erste Prinzip, welches die Menschheit zum Studium der Philosophie bewegt, jener Wissenschaft, die vorgibt, sie lege die verborgenen Verbindungen offen, die verschiedene Ausdrucksformen der Natur vereinen.
Adam Smith, «The History of Astronomy» (1795)
Die Bestiarien des Mittelalters standen in einer alten Tradition, der die Natur als Quelle für moralisierende Erzählungen diente. In ihrer modernen Form, der Entwicklung von Vorstellungen über die Evolution, führt die gleiche Tradition zu einer besonders krassen Form schlechter poetischer Naturwissenschaft. Damit meine ich sowohl die Illusion, es gebe einen einfachen Gegensatz zwischen Gut und Böse, sozial und asozial, egoistisch und altruistisch, hart und sanft, als auch die Vorstellung, jedes dieser Gegensatzpaare entspreche den anderen Paaren und die Geschichte der Debatte über Evolution und Gesellschaft sei ein Pendel, das zwischen den Gegensätzen gleichmäßig hin- und herschwingt. Ich leugne nicht, dass man in diesem Zusammenhang über interessante Fragen diskutieren kann, aber ich wende mich gegen den «poetischen» Gedanken, es gebe ein bruchloses Spektrum und man könne von allen Punkten dieses Spektrums aus lohnende Argumente vertreten. Um noch einmal die Regenmacher zu bemühen: Zwischen einem egoistischen Gen und einem egoistischen Menschen besteht kein engerer Zusammenhang als zwischen einem Stein und einer Regenwolke.
Um das bruchlose poetische
Weitere Kostenlose Bücher