Der entzauberte Regenbogen
Wahrscheinlichkeit, dass das Produkt überhaupt lebensfähig wäre, ist unglaublich klein, ganz gleich, wie leer das Ökosystem und wie groß seine Nischen sind. Ein Sprung auf der Ebene von Stämmen wäre ein absoluter Reinfall.
Nach meiner Überzeugung glauben die von mir zitierten Autoren selbst nicht, was ihre gedruckten Worte zweifellos nahe legen. Ich glaube, sie haben sich einfach an Goulds Rhetorik berauscht und nicht gründlich darüber nachgedacht. Ich zitiere sie in diesem Kapitel nur deshalb, weil ich deutlich machen möchte, wie ein begabter Dichter andere unabsichtlich in die Irre führen kann, insbesondere wenn er zuvor sich selbst in die Irre geführt hat. Und die poetische Darstellung des Kambriums als segensreiche Zeit, in der Neues heraufdämmerte, ist zweifellos verführerisch. Kauffman lässt sich davon völlig hinreißen:
Bald nach der Erfindung vielzelliger Lebensformen ereignete sich ein gewaltiger Ausbruch evolutionärer Innovation. Man gewinnt geradezu den Eindruck, als hätten die vielzelligen Lebensformen in dieser Epoche in einer Art von unbändigem Erkundungsrausch alle möglichen Verästelungen ausprobiert.
Der Öltropfen im Wasser (1996)
Ja. Genau diesen Eindruck gewinnt man. Aber man bekommt ihn durch Goulds Rhetorik und nicht durch die Tatsachen im Zusammenhang mit Fossilien aus dem Kambrium oder durch nüchternes Nachdenken über die Gesetzmäßigkeiten der Evolution.
Wenn sich Wissenschaftler vom Kaliber eines Kauffman, Leakey oder Lewin durch schlechte poetische Wissenschaft verführen lassen, welche Chancen hat dann der Nichtfachmann? Daniel Dennett berichtete mir, wie er sich einmal mit einem Philosophenkollegen unterhielt; dieser hatte Wonderful Life so verstanden, als würde darin behauptet, die Stämme des Kambriums hätten keinen gemeinsamen Vorfahren, sondern seien unabhängig entstandene Lebensformen! Als Dennett ihm versicherte, das sei nicht Goulds Absicht gewesen, erwiderte der Kollege: «Ja, wozu denn dann das ganze Gerede?»
Schriftstellerische Fähigkeiten sind ein zweischneidiges Schwert. Das fiel auch dem angesehenen Evolutionsforscher John Maynard Smith auf; er schrieb im New York Review of Books :
Gould nimmt, insbesondere auf seiner Seite des Atlantiks, eine recht seltsame Stellung ein. Wegen seiner ausgezeichneten Aufsätze gilt er bei Nichtbiologen als führender Evolutionstheoretiker. Dagegen sehen die Evolutionsbiologen, mit denen ich über seine Arbeiten gesprochen habe, in ihm einen Mann mit so verworrenen Ideen, dass es sich kaum lohnt, sich damit abzugeben; aber gleichzeitig gilt er auch als einer, den man nicht öffentlich kritisieren sollte, weil er wenigstens gegen die Kreationisten auf unserer Seite steht. Das alles spielt nur deshalb eine so große Rolle, weil er Nichtbiologen ein im Wesentlichen falsches Bild vom Zustand der Evolutionstheorie vermittelt.
Der Abschnitt stammt aus einer Rezension des 1995 erschienenen Buches Darwin’s Dangerous Idea von Daniel Dennett (deutsch: Darwins gefährliches Erbe , 1996), das eine verheerende und hoffentlich abschließende Kritik an Goulds Einfluss auf das Wissen über Evolution enthält.
Was geschah wirklich im Kambrium? Einer der drei führenden heutigen Fachleute für den Burgess-Schiefer, die Fossilschicht aus dem Kambrium, von der Wonderful Life handelt, ist auch nach Goulds Ansicht Simon Conway Morris von der Universität Cambridge. Er hat kürzlich selbst ein faszinierendes Buch über das Thema geschrieben; das 1998 erschienene Werk trägt den Titel The Crucible of Creation und geht mit fast allen Aspekten von Goulds Ansichten kritisch ins Gericht. Wie Conway Morris, so glaube auch ich, dass es keinen stichhaltigen Grund für die Annahme gibt, der Evolutionsprozess sei im Kambrium anders abgelaufen als heute. Aber zweifellos findet man unter den Fossilien aus jener Zeit die ersten Vertreter zahlreicher großer Tiergruppen. Das lässt sich mit einer nahe liegenden Hypothese erklären, auf die viele Autoren gestoßen sind. Vielleicht entwickelten sich bei mehreren Tiergruppen zur gleichen Zeit und vielleicht auch aus den gleichen Gründen die ersten harten Skelette, die Fossilien bilden konnten. Eine Möglichkeit wäre ein entwicklungsgeschichtlicher Rüstungswettlauf zwischen Räubern und Beute, aber man kann sich auch andere Ursachen vorstellen, beispielsweise eine tief greifende Veränderung in der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre. Conway Morris findet keinerlei
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