Der entzauberte Regenbogen
Umwelt, das von der ständigen Aktualisierung durch die Sinnesorgane eingeschränkt wird. Wie das Modell im Einzelnen aussieht, dürfte davon, wie die betreffende Spezies es nutzt, mindestens ebenso stark abhängen wie von dem, was wir für das Wesen der Welt selbst halten.
Stellen wir uns einmal eine Möwe vor, die geschickt im Wind von einer Klippe am Meer weggleitet. Sie schlägt vielleicht nicht einmal mit den Flügeln, aber das heißt nicht, dass ihre Flügelmuskulatur untätig wäre. Sie ist wie die Schwanzmuskulatur ständig mit winzigen Korrekturbewegungen beschäftigt, mit denen der Vogel seine Tragflächen sehr genau auf jeden Wirbel, jede Veränderung der Luft abstimmt. Würden wir Informationen über den Zustand aller Nerven, die diese Muskeln steuern, einem Computer eingeben und ständig aktualisieren, könnte der Rechner daraus im Prinzip in allen Einzelheiten die Luftströmungen rekonstruieren, durch die der Vogel geflogen ist. Dazu würde er unterstellen, dass der Vogel dazu konstruiert ist, in der Luft zu bleiben, und anhand dieser Annahme würde er ein ständig aktualisiertes Modell der Luft in seiner Umgebung erstellen. Es wäre ein dynamisches Modell, ganz ähnlich wie die Modelle der weltweiten Wettersysteme, die in den Wetterberichten verwendet werden: Auch sie werden mit neuen Daten, die Wetterschiffe, Satelliten und Bodenstationen liefern, ständig überarbeitet und ermöglichen durch Extrapolation eine Aussage über die Zukunft. Das Wettermodell gibt Auskunft über das Wetter von morgen; das Modell der Möwe könnte dem Vogel theoretisch «Auskunft» darüber geben, welche Korrekturen er vorausschauend an seinen Flügel- und Schwanzmuskeln vornehmen soll, um in der nächsten Sekunde stetig weiterzufliegen.
Natürlich will ich mit diesen Überlegungen auf etwas ganz Bestimmtes hinaus: Bisher hat kein menschlicher Programmierer ein Computermodell geschaffen, das Möwen bei der Koordination ihrer Flügel- und Schwanzmuskulatur helfen könnte, aber mit Sicherheit arbeitet ein solches Modell ständig im Gehirn unserer Möwe und jedes anderen fliegenden Vogels. Ähnliche Modelle, die in ihren Umrissen von Genen und früheren Erfahrungen vorprogrammiert sind und von einer Millisekunde zur nächsten durch neue Sinnesinformationen aktualisiert werden, wirken im Schädel jedes schwimmenden Fisches, jedes galoppierenden Pferdes, jeder Fledermaus, die sich durch Echolotung orientiert.
Der geniale Erfinder Paul MacCready wurde vor allem durch seine höchst ökonomischen Flugmaschinen bekannt, die von Menschen angetriebenen Modelle Gossamer Condor und Gossamer Albatross sowie den solarbetriebenen Solar Challenger . Er konstruierte 1985 aber auch einen fliegenden Nachbau des Riesenflugsauriers Quetzalcoatlus in halber Größe. Das gewaltige fliegende Reptil, dessen Flügelspannweite der eines Kleinflugzeuges vergleichbar war, hatte fast keinen Schwanz und war deshalb in der Luft sehr instabil. Nach Ansicht von John Maynard Smith, der eine Ausbildung als Flugzeugingenieur abgeschlossen hatte, bevor er in die Zoologie wechselte, verschaffte ihm dies einen Vorteil bei der Manövrierfähigkeit, aber es erforderte auch in jedem Augenblick eine genaue Steuerung der Tragflächen. Ohne einen schnellen Computer, der die Trimmung ständig korrigierte, wäre MacCreadys Nachbau abgestürzt. Einen entsprechenden Computer muss auch der echte Quetzalcoatlus in seinem Kopf gehabt haben, und zwar aus dem gleichen Grund. Ältere Flugsaurier hatten einen langen Schwanz, dessen Ende bei manchen Arten wie ein Tischtennisschläger geformt war; das verschaffte ihnen eine größere Stabilität, allerdings auf Kosten der Manövrierfähigkeit. Anscheinend kam es in der Evolution der späteren, fast schwanzlosen Flugsaurier wie Quetzalcoatlus zu einer Verschiebung vom stabilen, schlecht steuerbaren zum besser manövrierfähigen, dafür aber instabilen Flug. Die gleiche Entwicklung kann man auch in der Evolution der von Menschen gebauten Flugzeuge beobachten. Möglich wird sie in beiden Fällen nur durch die zunehmende Rechenleistung. Wie die Möwe, so muss auch der Flugsaurier auf dem Computer in seinem Kopf ein Simulationsmodell des Tieres und der umgebenden Luft laufen lassen.
Sie und ich, wir Menschen, wir Säugetiere, wir Tiere, leben in einer virtuellen Welt, aufgebaut aus Elementen, die die wirkliche Welt immer besser wiedergeben, je höher die Ebene ist, auf der wir uns bewegen. Natürlich haben wir das Gefühl, wir
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