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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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werde ich auf eine Phantasiegeschichte zurückgreifen und erzählen, wie das Verfahren im nächsten Jahrhundert funktionieren könnte. Die Ärztin der Zukunft braucht sich nicht mehr die Hände zu waschen, denn sie kommt nicht einmal in die Nähe des Patienten. Vielmehr steht sie auf einer großen, freien Fläche und ist über Funk mit dem Endoskop im Darm des Patienten verbunden. Die kleinen Bildschirme vor ihren Augen zeigen ein vergrößertes, räumliches Bild vom Innenleben des Patienten unmittelbar vor der Spitze des Endoskops. Dreht sie den Kopf nach links, bewegt der Computer automatisch auch das Vorderende des Endoskops in die gleiche Richtung. Das Blickfeld der Kamera im Darm folgt genau den Kopfbewegungen der Ärztin in allen drei Raumrichtungen. Mit ihren eigenen Schritten bewegt sie das Endoskop vorwärts. Langsam, sehr langsam, damit beim Patienten kein Schaden angerichtet wird, schiebt der Computer das Endoskop weiter; seine Richtung wird dabei immer durch die Chirurgin gesteuert, die in einem ganz anderen Raum vorwärtsgeht. Für sie fühlt es sich an, als spaziere sie tatsächlich durch den Darm. Nicht einmal Platzangst tritt auf. Wie auch heute bei endoskopischen Untersuchungen üblich, wurde der Darm zuvor vorsichtig mit Luft aufgeblasen, denn sonst würden die Wände auf die Ärztin einstürzen und sie zum Kriechen zwingen.
    Sobald das Gesuchte – beispielsweise ein bösartiger Tumor – gefunden ist, wählt die Ärztin ein Instrument aus ihrem virtuellen Arztkoffer. Am bequemsten ist es vielleicht, sich eine Kettensäge vorzustellen, deren Bild vom Computer erzeugt wird. Die Ärztin betrachtet den vergrößerten Tumor in räumlicher Ansicht auf den Bildschirmen in ihrem Helm, sieht die virtuelle Kettensäge in ihren virtuellen Händen und geht an die Arbeit: Sie schneidet den Tumor heraus, als wäre er ein Baumstumpf, den sie aus dem Garten entfernen will. Die Entsprechung zur Kettensäge im wirklichen Patienten ist ein sehr feiner Laserstrahl. Wie von einem Pantographen werden die großen Armbewegungen der Ärztin, mit denen sie die Kettensäge hebt, vom Computer zu entsprechenden, winzigen Bewegungen der Laserpistole am Vorderende des Endoskops verkleinert.
    In meinem Zusammenhang brauche ich nur festzustellen: Theoretisch ist es möglich, mit den Methoden der virtuellen Realität die Illusion zu schaffen, man ginge durch den Darm eines anderen Menschen. Ob das für die Ärzte wirklich eine Hilfe ist, weiß ich nicht. Ich vermute es zwar, aber ein Facharzt aus einem heutigen Krankenhaus, den ich danach fragte, war ein wenig skeptisch. Derselbe Arzt bezeichnete sich und seine Gastroenterologenkollegen als bessere Klempner. Die Installateure selbst untersuchen Rohrleitungen mit einer größeren Version des Endoskops, und in Amerika schicken sie sogar mechanische «Maulwürfe» los, die sich durch verstopfte Abflüsse fressen. Natürlich eignen sich die Methoden, die ich mir für den Arzt ausgemalt habe, auch für einen Installateur. Er könnte mit einer virtuellen Grubenlampe auf dem Helm und einer virtuellen Spitzhacke in der Hand durch die virtuelle Wasserleitung «wandern» (oder «schwimmen»?) und Verstopfungen beseitigen.
    Das Parthenon aus meinem ersten Beispiel existiert ausschließlich im Computer. Ebenso könnte der Rechner uns mit Engeln, Hexen oder geflügelten Einhörnern bekannt machen. Meine hypothetischen Ärzte und Klempner dagegen sind durch eine virtuelle Welt gewandert, die so eingeschränkt war, dass sie einem bekannten Teil der Wirklichkeit ähnelte, nämlich dem tatsächlichen Inneren einer Rohrleitung oder eines Darms. Die virtuelle Welt, die der Ärztin auf ihren Stereo-Bildschirmen präsentiert wurde, war zwar zugegebenermaßen von einem Computer konstruiert, aber auf eine genau festgelegte Weise. In Wirklichkeit wurde eine Laserkanone gesteuert, auch wenn sie als Kettensäge wiedergegeben wurde – diese wirkt wie ein natürliches Werkzeug, wenn man einen Tumor herausschneiden will, dessen Ausmaße der (virtuellen) Körpergröße der Ärztin vergleichbar sind. Die Form der virtuellen Konstruktion spiegelte ein Detail aus der wirklichen Welt im Inneren des Patienten wider, und zwar so, dass es der Tätigkeit der Ärztin möglichst gut entgegenkam. Eine solche eingeschränkte virtuelle Realität ist Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels. Nach meiner Überzeugung konstruiert jede biologische Art, die ein Nervensystem besitzt, mit seiner Hilfe ein Modell ihrer besonderen

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