Der entzauberte Regenbogen
drückt.
Noch ein letztes Experiment, bei dem man sich selbst als Versuchskaninchen verwenden kann: Man dreht sich so lange um die eigene Achse, bis einem schwindelig wird. Dann bleibt man stehen und blickt geradeaus. Die Umwelt scheint sich weiter zu drehen, obwohl der Verstand uns sagt, dass sich die Rotation nicht fortsetzt. Die Netzhautbilder bewegen sich nicht, aber die Beschleunigungsmesser in den Ohren (die die Bewegung der Flüssigkeit in den so genannten Bogengängen wahrnehmen) teilen dem Gehirn mit, der Körper drehe sich immer noch. Entsprechend weist das Gehirn die Software an, in der virtuellen Realität eine rotierende Welt zu sehen. Bewegen sich die Bilder auf der Netzhaut aber nicht, bemerkt das Modell die Diskrepanz und dreht sich in der entgegengesetzten Richtung. Oder – um es subjektiv zu formulieren – die für virtuelle Realität zuständige Software sagt sich: «Ich weiß von den Ohren, dass ich mich drehe; damit das Modell stillsteht, muss ich es deshalb im Vergleich zu den Informationen, die die Ohren mir schicken, in umgekehrter Richtung in Rotation versetzen.» In Wirklichkeit melden die Netzhäute aber keine Drehung, und deshalb sehen wir die scheinbare Drehung, die das Modell als Ausgleich erzeugt. Sie ist in Barlows Worten das Unerwartete, die «Neuigkeit», und deshalb nehmen wir sie wahr.
Mit einer zusätzlichen Schwierigkeit, die uns Menschen in der Regel erspart bleibt, haben die Vögel zu kämpfen. Ein Vogel, der auf einem Zweig sitzt, wird vom Wind ständig auf und ab oder vor und zurück bewegt, und entsprechend unruhig sind seine Netzhautbilder. Es ist, als befinde er sich ständig in einem Erdbeben. Vögel halten den Kopf und damit ihr Bild der Umwelt ruhig, indem sie geschickt die Halsmuskulatur einsetzen. Filmt man einen Vogel auf einem windgeschüttelten Zweig, kann man fast den Eindruck gewinnen, als sei der Kopf am Hintergrund festgenagelt, sodass er den Halsmuskeln, die den übrigen Körper bewegen, als Angelpunkt dienen kann. Auch wenn ein Vogel geht, hält er seine wahrgenommene Umwelt mit dem gleichen Kunstgriff ruhig. Das ist der Grund, warum Hühner beim Gehen mit dem Kopf «rucken», was für uns unter Umständen recht komisch aussieht. In Wirklichkeit ist es ziemlich schlau. Wenn sich der Körper nach vorn bewegt, zieht der Hals den Kopf auf kontrollierte Weise zurück, sodass die Netzhautbilder unbewegt bleiben. Dann schießt der Kopf nach vorn, sodass sich der Vorgang wiederholen kann. Für mich wirft das die Frage auf, ob diese typische Verhaltensweise der Vögel nicht auch die unerwünschte Folge hat, dass sie ein echtes Erdbeben nicht sehen können, weil die Halsmuskeln automatisch für Ausgleich sorgen. Aber im Ernst: Vögel setzen ihre Halsmuskeln auf eine Weise ein, die man als «Übung nach Barlow» bezeichnen könnte – der Teil der Welt, der keinen Neuigkeitswert hat, wird ruhig gehalten, sodass echte Bewegungen auffallen.
Mit ähnlichen Verhaltensweisen sorgen anscheinend auch Insekten und viele andere Tiere für ein ruhiges Gesichtsfeld. Nachgewiesen wurde das mit einem so genannten «optomotorischen Apparat»: Das Insekt sitzt auf einem Tisch und ist von einem hohlen Zylinder umgeben, auf dessen Innenseite senkrechte Streifen aufgemalt sind. Lässt man nun den Zylinder rotieren, dreht sich das Insekt mit Hilfe seiner Beine ebenfalls. Es ist bestrebt, sein visuelles Umfeld konstant zu halten.
Normalerweise muss die Simulationssoftware eines gehenden Insekts die Anweisung erhalten, mit Bewegung zu rechnen, denn sonst würde das Tier seine eigenen Bewegungen auszugleichen versuchen, und wohin würde das führen? Diese Überlegung nahmen die beiden scharfsinnigen deutschen Wissenschaftler Erich von Holst und Horst Mittelstaedt zum Anlass für ein teuflisch hinterhältiges Experiment. Wer einmal zugesehen hat, wie sich eine Fliege mit den Vorderbeinen das Gesicht putzt, der weiß, dass sie den Kopf in einer schnellen Bewegung völlig umdrehen können. Von Holst und Mittelstaedt gelang es, den Kopf einer Fliege in dieser verdrehten Position mit Klebstoff zu befestigen. Was das für Folgen hat, kann man sich denken: Wenn sich die Fliege dreht, erhält das Modell in ihrem Gehirn normalerweise die Anweisung, mit einer entsprechenden Bewegung des Gesichtsfeldes zu rechnen. Sobald die unglückliche Fliege mit dem verdrehten Kopf jedoch einen Schritt machte, empfing sie Sinneseindrücke, wonach sich die Welt nicht in der erwarteten Richtung, sondern genau
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