Der entzauberte Regenbogen
vor auf unterschiedliche Stellen der beiden Netzhäute. Demnach hat also die Simulationssoftware ein einziges, dreidimensionales Modell der Hand konstruiert , und dazu hat es die Information von beiden Augen genutzt. Das Gehirn vermischt auf raffinierte Weise beide Informationen und stellt daraus ein nützliches Modell einer einzigen, dreidimensionalen, undurchsichtigen Hand zusammen. Nebenbei bemerkt: Natürlich stehen alle Netzhautbilder auf dem Kopf, aber das spielt keine Rolle, denn das Gehirn konstruiert sein Simulationsmodell so, dass es seinen Zwecken am besten dient, und dazu definiert es auch die richtige Position.
Um aus den zweidimensionalen Bildern ein dreidimensionales Modell zu konstruieren, bedient sich unser Gehirn erstaunlich komplizierter Rechenkunststücke; solche stehen auch hinter den vielleicht eindrucksvollsten optischen Täuschungen. Diese gehen auf eine Entdeckung des ungarischen Psychologen Bela Julesz aus dem Jahr 1959 zurück. Ein normales Stereoskop zeigt dem linken und dem rechten Auge das gleiche Foto, das aber aus geringfügig unterschiedlichen Winkeln aufgenommen wurde. Das Gehirn setzt beide Bilder zusammen und sieht eine deutlich dreidimensionale Szenerie. Julesz tat das Gleiche, aber mit Bildern, die aus zufällig verteilten Punkten bestanden. Linkem und rechtem Auge wurde das gleiche Zufallsmuster gezeigt, doch mit einem entscheidenden Unterschied. In einem typischen Experiment von Julesz waren die Punkte in einem bestimmten Ausschnitt des Musters, beispielsweise einem Quadrat, gerade so weit nach einer Seite verschoben, dass eine stereoskopische Illusion entstand. Das Gehirn sieht nun ein hervortretendes Quadrat, obwohl in keinem der beiden Bilder auch nur die leiseste Andeutung eines Quadrats zu erkennen ist. Die Figur ergibt sich ausschließlich durch den Unterschied zwischen den beiden Bildern. Das Quadrat sieht für den Betrachter sehr real aus, existiert aber in Wirklichkeit nur in seinem Gehirn. Auf dem Julesz-Effekt beruhen die heute so beliebten «Magic-Eye»-Bilder. Eine Glanzleistung des gerafften Erklärens vollbrachte Steven Pinker: Er widmete einen kleinen Abschnitt seines Buches Wie das Denken im Kopf entsteht (1998) den Prinzipien, die hinter diesen Bildern stehen. Seine Erläuterungen zu verbessern, werde ich nicht einmal versuchen.
Dass das Gehirn wie ein hoch entwickelter Computer für virtuelle Realität arbeitet, lässt sich leicht zeigen. Zuerst blickt man sich um, wobei man nur die Augen bewegt. Während die Blicke wandern, bewegen sich die Bilder auf der Netzhaut, als würde man sich mitten in einem Erdbeben befinden. Aber wir sehen kein Erdbeben, sondern die Umgebung erscheint unbeweglich wie ein Fels. Natürlich will ich darauf hinaus, dass das virtuelle Modell im Gehirn entsprechend konstruiert ist und stehen bleibt. Aber damit ist der Nachweis noch nicht zu Ende. Man kann das Bild auf der Netzhaut nämlich auch auf andere Weise in Bewegung versetzen: indem man durch die Haut des Augenlides vorsichtig auf den Augapfel drückt. Dabei bewegt sich das Bild auf der Netzhaut genauso wie zuvor, und wenn man mit dem Finger geschickt genug ist, kann man die Blickrichtung auf die gleiche Weise verändern. Aber jetzt könnte man wirklich glauben, dass sich die Erde bewegt. Das ganze Bild der Umwelt wackelt, als erlebte man ein Erdbeben.
Wo liegt der Unterschied? Die Antwort: Der Computer im Gehirn ist so programmiert, dass er die normalen Augenbewegungen berücksichtigt und in die Konstruktion seines berechneten Modells der Umwelt einbezieht. Es bedient sich nicht nur der Informationen, die von den Augen kommen, sondern auch jener über die Augenbewegungen. Sobald das Gehirn an die Augenmuskeln die Anweisung gibt, das Auge zu bewegen, schickt es eine Kopie des Befehls auch an den Gehirnteil, der das innere Modell der Welt konstruiert. Wenn sich die Augen dann bewegen, erwartet die für virtuelle Realität zuständige Software im Gehirn, dass die Bilder auf der Netzhaut genau um den richtigen Betrag wandern und schafft in dem Modell einen entsprechenden Ausgleich. Deshalb wirkt das konstruierte Modell der Umwelt unbeweglich, auch wenn es aus einem anderen Winkel betrachtet wird. Bewegt sich die Erde jedoch zu einem Zeitpunkt, zu dem das Modell keine Bewegung erwartet, verschiebt es sich entsprechend. Das ist auch gut so, denn es könnte sich ja tatsächlich um ein Erdbeben handeln. Aber man kann das System auch hinters Licht führen, indem man auf den Augapfel
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