Der entzauberte Regenbogen
und so die Möglichkeit der semantischen Repräsentation entdeckten. Ob meine Fährten-Landkarte nun zur Geburt der Semantik führte oder nicht: In jedem Fall ist sie neben der Sprache mein zweiter Vorschlag für eine Neuerung in der Software, die dann die Spirale der Koevolution und die Vergrößerung unseres Gehirns in Gang setzte. Hob das Kartenzeichnen unsere Vorfahren über die kritische Schwelle, deren Überquerung den anderen Menschenaffen nicht gelang?
Auf die Idee für meine dritte potentielle Neuerung in der Software brachte mich William Calvin. Nach seiner Vermutung stellten ballistische Bewegungen wie das Werfen von Geschossen auf ein weit entferntes Ziel besondere Anforderungen an die Rechenfähigkeit des Gehirngewebes. Anfangs, so Calvins Annahme, meisterte das Gehirn dieses Problem vielleicht zu Jagdzwecken, und als Nebenprodukt entwickelten sich viele andere Fähigkeiten.
Calvin hatte sich an einem Kiesstrand damit vergnügt, mit Steinen nach einem Stück Holz zu werfen, und dabei schoss ihm unwillkürlich ein produktiver Gedankengang durch den Kopf (die Metapher ist kein Zufall). Was für Berechnungen muss das Gehirn vornehmen, wenn wir versuchen, ein Ziel zu treffen, wie unsere Vorfahren es immer öfter tun mussten, als sie anfingen, regelmäßig auf die Jagd zu gehen? Ein entscheidender Faktor für einen exakten Wurf ist der zeitliche Ablauf. Ganz gleich, welchen Arm man bevorzugt und ob man von unten schleudert, von oben oder aus dem Handgelenk wirft: Entscheidend ist immer, dass das Geschoss die Hand im richtigen Augenblick verlässt. Man kann sich die Aktion des Werfers beim Kricket vorstellen (er muss – im Gegensatz zum Pitcher beim Baseball – den Arm gestreckt halten, und das kann man sich leicht vorstellen). Lässt er den Ball zu früh los, fliegt dieser über den Kopf des Schlagmannes; löst er den Griff zu spät, bohrt sich der Ball in die Erde. Wie schafft es unser Nervensystem, ein Geschoss genau im richtigen Augenblick und passend zur Armbewegung fliegen zu lassen? Im Gegensatz zu einem Stoß mit dem Schwert, den man bis zum Ziel steuern kann, ist das Werfen ein ballistischer Vorgang. Sobald das Geschoss die Hand verlassen hat, kann man es nicht mehr beeinflussen. Auch andere feinmotorische Bewegungen, beispielsweise das Einschlagen eines Nagels mit dem Hammer, sind eigentlich ballistisch, obwohl das Werkzeug oder die Waffe die Hand nicht verlässt. Alle Berechnungen müssen im Voraus vorgenommen werden.
Das Problem der zeitlichen Koordination beim Werfen eines Steines oder Speeres ließe sich unter anderem dadurch lösen, dass man die erforderlichen Kontraktionen einzelner Muskeln ad hoc berechnet, während der Arm in Bewegung ist. Moderne Computer wären dazu in der Lage, aber das Gehirn ist zu langsam. Nach Calvins Überlegungen wäre das langsame Nervensystem besser beraten, wenn es die Befehle für mechanische Muskelbewegungen in einem Zwischenspeicher ablegt. Die ganze Bewegungsfolge beim Werfen eines Balles oder Speeres ist im Gehirn als aufgezeichnete Liste einzelner Befehle an die Muskeln programmiert und in der richtigen Reihenfolge gespeichert.
Natürlich sind weiter entfernte Ziele schwerer zu treffen. Calvin entstaubte seine Physiklehrbücher und machte sich kundig, wie man das immer kleiner werdende «Startfenster» berechnet, mit dem man bei immer längeren Würfen die Zielgenauigkeit beibehält. «Startfenster» ist ein Fachbegriff aus der Raumfahrt. Raketenexperten berechnen, in welchem Zeitraum ein Raumschiff starten muss, wenn es beispielsweise den Mond erreichen soll. Wird es zu früh oder zu spät gestartet, verfehlt es sein Ziel. Für ein 4 Meter entferntes Ziel von der Größe eines Kaninchens ist das Startfenster nach Calvins Berechnungen etwa 11 Millisekunden groß. Ließ er den Stein zu früh los, flog er über das Kaninchen hinaus. Hielt er ihn zu lange fest, fiel er schon vorher zu Boden. Der Unterschied zwischen «zu kurz» und «zu lang» betrug nur 11 Millisekunden, etwa ein Hundertstel einer Sekunde. Darüber war Calvin als Experte für Nervenzellen beunruhigt, denn er wusste, dass die normale Fehlerschwankung bei solchen Zellen größer ist als das Startfenster. Aber er wusste auch, dass gute Werfer durchaus in der Lage sind, ein solches Ziel auf diese Entfernung zu treffen, und zwar sogar im Lauf. Ich selbst werde nie das Schauspiel vergessen, als ein Kommilitone aus Oxford, der Nawab von Pataudi (der einer der größten indischen
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