Der entzauberte Regenbogen
biologisch wertvollen Hang zur Nachahmung besäßen. Es gibt eine Fülle stichhaltiger Gründe, warum die Nachahmung von der herkömmlichen, auf Gene wirkenden natürlichen Selektion begünstigt werden könnte. Individuen, die genetisch darauf eingestellt sind, andere zu imitieren, können sich auf der Überholspur Fähigkeiten aneignen, die andere erst nach langer Zeit erwerben. Eines der schönsten Beispiele sind die Meisen, unter denen sich die Gewohnheit zum Öffnen von Milchflaschen verbreitet. In Großbritannien wird die Milch am frühen Morgen an die Haustür geliefert, und gewöhnlich steht sie dort eine Zeit lang, bevor sie in die Wohnung geholt wird. Eine Spezies kleiner Vögel ist in der Lage, den Metalldeckel aufzupicken, obwohl das für Vögel keine nahe liegende Tätigkeit ist. Es gab aber bei den Blaumeisen mehrere Epidemien der Milchflaschen-Plünderungen, die sich von bestimmten geographischen Zentren in Großbritannien aus verbreiteten. «Epidemie» ist genau das richtige Wort. Die Zoologen James Fisher und Robert Hinde konnten die Verbreitung der Gewohnheit in den vierziger Jahren genau belegen: Sie ging durch Nachahmung von den Brennpunkten aus, wo sie begonnen hatte, entdeckt vermutlich von ganz wenigen Vögeln, die besonders erfindungsreich waren und zu Auslösern der Mem-Epidemie wurden.
Eine ähnliche Geschichte wird von Schimpansen berichtet. Diese erlernen durch Nachahmung, nach Termiten zu angeln und dazu Zweige in deren Bau zu stecken. Das Gleiche gilt für die Fähigkeit, Nüsse mit Steinen auf einem hölzernen oder steinernen Amboss zu knacken, die man nur in bestimmten, begrenzten Gebieten Westafrikas beobachtet. Die Hominiden, die unsere Vorfahren waren, lernten entscheidende Fähigkeiten mit Sicherheit, indem sie einander nachahmten. Auch bei heutigen Naturvölkern werden die Herstellung von Steinwerkzeugen, das Weben, die Fähigkeiten zum Angeln, Dachdecken, Töpfern, Feuermachen, Kochen und Schmieden durch Nachahmung erlernt. Abstammungslinien von Meistern und Lehrlingen sind das memetische Gegenstück zu den genetischen Reihen von Vorfahren und Nachkommen. Der Zoologe Jonathan Kingdon äußerte die Vermutung, unsere Vorfahren könnten manche Fähigkeiten durch Imitation anderer Arten erworben haben. Spinnennetze könnten zum Beispiel die Anregung zur Erfindung des Fischernetzes oder des Bindfadens gegeben haben, und die Nester der Webervögel waren vielleicht das Vorbild für Knoten oder gedeckte Dächer.
Im Gegensatz zu den Genen haben die Meme sich bisher offenbar nicht zusammengetan, um große «Vehikel» – Körper – zu bauen, in denen sie gemeinsam wohnen und überleben können. Meme sind auf die Vehikel angewiesen, die von Genen gebaut wurden (es sei denn, man folgt einem neueren Vorschlag und bezeichnet das Internet als Vehikel für Meme). Aber Meme manipulieren das Verhalten lebender Organismen nicht weniger wirksam. Interessant wird die Analogie zwischen genetischer und memetischer Evolution, wenn wir auf sie das anwenden, was wir beim «egoistischen Kooperator» gelernt haben. Meme überleben wie Gene in Gegenwart bestimmter anderer Meme. Ein Verstand kann durch die Gegenwart bestimmter Meme darauf vorbereitet sein, andere Meme besonders gut aufzunehmen. Wie der Genvorrat einer Art, aus dem ein Kartell kooperierender Gene entsteht, so wird eine geistige Gruppe – eine «Kultur», eine «Tradition» – zu einem Kartell kooperierender Meme oder einem Memplex, wie es auch genannt wurde. Wie bei den Genen ist es ein Fehler, das ganze Kartell für eine Einheit zu halten, die als zusammengehöriges Gebilde der Selektion unterliegt. Besser betrachtet man es unter dem Gesichtspunkt von Memen, die sich gegenseitig unterstützen und jeweils eine Umwelt schaffen, welche die anderen begünstigt. Wo auch die Grenzen der Memtheorie liegen mögen: Nach meiner Überzeugung kommt zumindest dieser Aspekt, dass eine Kultur oder Tradition, eine Religion oder politische Richtung nach dem Modell des «egoistischen Kooperators» heranwächst, vermutlich der Wahrheit recht nahe.
Dennett zeichnet ein sehr lebhaftes Bild vom menschlichen Geist als brodelnder Quelle von Memen. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und vertritt die Hypothese, das menschliche Bewusstsein sei als solches ein gewaltiger Komplex aus Memen. Das und vieles andere begründet er überzeugend und sehr ausführlich in seinem 1994 erschienenen Buch Philosophie des menschlichen Bewußtseins . Seine verwickelte
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