Der entzauberte Regenbogen
sogar in eine Antilopenhaut hüllen, wie jagende Völker es noch heute aus rituellen Gründen oder zur Unterhaltung tun. Er könnte auch vorführen, welche Tätigkeiten er von seinen Jägern erwartet: absichtlich übertriebene Tarnung beim Anpirschen, auffälligen Lärm beim Verfolgen, einen plötzlichen, überraschenden letzten Angriff. Er könnte aber auch noch etwas anderes tun und darin würde er jedem heutigen Armeeoffizier ähneln: Er könnte die Ziele und die geplanten Manöver auf einer Landkarte des Gebietes erläutern.
Wir können davon ausgehen, dass unsere Jäger ohne Ausnahme geübte Fährtenleser sind, die ein Gespür für die zweidimensionale Anordnung von Fußabdrücken und anderen Spuren besitzen: Ihr räumliches Vorstellungsvermögen geht wahrscheinlich über alles hinaus, was wir uns ohne weiteres ausmalen können (es sei denn, wir gehören selbst zu den Jägern der !Kung San). Sie sind es von klein auf gewohnt, einer Fährte zu folgen und in ihr eine auf der Erde liegende, lebensgroße Landkarte sowie ein vorübergehendes Abbild der Bewegungen eines Tieres zu sehen. Was könnte näher liegen, als dass der Anführer einen Stock nimmt und ein maßstabsgetreues Modell eines solchen vorübergehenden Bildes in den Staub zeichnet – ein Diagramm der Bewegungen auf einer Fläche? Der Anführer und seine Jäger sind vertraut mit der Vorstellung, dass eine Reihe von Hufabdrücken den Weg eines Antilopenrudels an einem morastigen Flussufer kennzeichnet. Warum sollte er nicht den Verlauf des Flusses selbst als Linie auf einer Abbildung im Staub einzeichnen? Sie alle sind es gewohnt, den Fußspuren der Menschen von ihrer eigenen Wohnhöhle zum Fluss zu folgen, warum also sollte der Anführer nicht auf seiner Landkarte die Lage der Höhle im Verhältnis zum Fluss eintragen? Mit Bewegungen seines Stockes auf der Landkarte könnte der Jäger zeigen, aus welcher Richtung sie sich der Antilope nähern, in welchem Winkel sie das Tier vor sich hertreiben und wo sie es angreifen wollen: Er führt es vor, indem er es buchstäblich in den Sand zeichnet.
Könnte ungefähr so der Weg ausgesehen haben, auf dem die Vorstellung einer maßstabsgetreuen verkleinerten, zweidimensionalen Abbildung geboren wurde – als natürliche Verallgemeinerung der wichtigen Fähigkeit, Tierfährten zu lesen? Vielleicht entsprang auch die Idee, Abbilder der Tiere selbst zu zeichnen, aus der gleichen Quelle. Der Abdruck eines Antilopenhufes im Schlamm ist natürlich ein negatives Abbild der Sache selbst. Der frische Abdruck einer Löwenpranke muss Furcht erregt haben. Ließ er auch in einem blendenden Blitz die Erkenntnis entstehen, dass man Teile eines Tieres – und dann das ganze Tier – in einer Abbildung zeichnen kann? Vielleicht erwuchs der blendende Geistesblitz, der zu der ersten Zeichnung eines ganzen Tieres führte, aus dem Abdruck eines vollständigen Kadavers, der aus dem rundum hart festgebackenen Schlamm gezogen wurde. Auch ein weniger deutliches Abbild im Gras konnte ohne weiteres von der geistigen Software für virtuelle Realität ausgedeutet werden.
Kann doch die Wiese nicht
umhin, den Abdruck zu bewahrn,
den ihr der Hase ließ.
W. B. Yeats, «Memory» (1919)
Gegenständliche Kunst jeder Art (und vermutlich auch nicht-gegenständliche Kunst) hängt von der Vorstellung ab, dass etwas neu Hergestelltes für etwas anderes stehen kann und dann die Gedanken oder die Verständigung unterstützt. Eine andere Ausprägungsform derselben menschlichen Fähigkeit zur Symbolerzeugung sind die Analogien und Metaphern, die der von mir so genannten poetischen Wissenschaft – der guten wie der schlechten – zugrunde liegen. Nehmen wir einmal an, es gebe ein ununterbrochenes Spektrum, in dem sich der Evolutionsverlauf widerspiegelt. An seinem einen Ende lassen wir zu, dass Dinge für andere, ähnliche Dinge stehen – wie die Büffel in den Höhlenmalereien. Am anderen stehen Symbole, die keine offensichtliche Ähnlichkeit mit den von ihnen bezeichneten Objekten haben – wie beispielsweise das Wort «Büffel», das seine Bedeutung nur durch eine von allen deutsch sprechenden Menschen anerkannte Konvention erhält. Die Zwischenstufen in dem Spektrum könnten nach meiner Überzeugung einem Evolutionsablauf entsprechen. Wie er begann, werden wir wohl nie erfahren. Aber vielleicht gibt meine Geschichte von den Fährten wieder, welche Art von Erkenntnissen eine Rolle spielte, als die Menschen zum ersten Mal in Analogien dachten
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