Der entzauberte Regenbogen
erzeugt ein anderes Muster und so weiter. Wollaston sah nur sieben Linien, Fraunhofer erkannte mit besseren Instrumenten schon 576, und bei modernen Spektroskopen sind es ungefähr 10 000.
Der Strichcode oder Fingerabdruck eines chemischen Elements ergibt sich nicht nur aus den Abständen zwischen den Linien, sondern auch aus ihrer Lage vor dem Hintergrund des Regenbogens. Heute lassen sich die Codes des Wasserstoffs und aller anderen Elemente mit der Quantentheorie genau erklären, aber an dieser Stelle muss ich mich entschuldigen und das Thema verlassen. Manchmal bilde ich mir ein, ich hätte ein wenig von der Poesie der Quantenmechanik erfasst, aber bisher habe ich sie noch nicht so gründlich verstanden, dass ich sie anderen erklären könnte. Eigentlich versteht wohl niemand die Quantentheorie ganz – vielleicht weil die natürliche Selektion unser Gehirn so gestaltet hat, dass wir in einer Welt des Großen, Langsamen überleben können, in der sich Quanteneffekte verwischen. Dies machte Richard Feynman sehr deutlich, und er soll auch gesagt haben: «Wenn Sie glauben, Sie hätten die Quantentheorie verstanden, dann verstehen Sie die Quantentheorie nicht!» Am nächsten kam ich dem Verständnis wahrscheinlich durch die Lektüre von Feynmans in Buchform erschienenen Vorlesungen und durch das erstaunliche, beunruhigende Werk Die Physik der Welterkenntnis von David Deutsch. (Beunruhigend finde ich es auch, weil ich nicht unterscheiden kann, wann ich über allgemein anerkannte physikalische Tatsachen lese und wann es sich um die gewagten Spekulationen des Autors handelt.) Bei allen Zweifeln, die ein Physiker in der Deutung der Quantentheorie haben mag, zweifelt niemand an ihrem phänomenalen Erfolg, wenn es darum geht, Ergebnisse von Experimenten in allen Einzelheiten vorauszusagen. Und für die Zwecke des vorliegenden Kapitels reicht es glücklicherweise aus, wenn man das weiß, was seit der Zeit Fraunhofers bekannt ist: dass jedes chemische Element zuverlässig seinen eigenen Strichcode aus Linien liefert, die sich in charakteristischen Abständen über das ganze Spektrum verteilen.
Man kann die Fraunhofer-Linien auf zweierlei Weise betrachten. Bisher habe ich dunkle Linien auf dem Hintergrund des Regenbogens beschrieben. Sie entstehen, weil ein Element im Lichtweg bestimmte Wellenlängen absorbiert, sodass sie aus dem sichtbaren Regenbogen verschwinden. Wird das gleiche Element aber zum Glühen gebracht – beispielsweise weil es zur chemischen Ausstattung eines Sterns gehört –, entsteht ein entsprechendes Muster aus hellen, farbigen Linien vor einem dunklen Hintergrund.
Fraunhofers Verfeinerung der Newtonschen Entwirrung war bereits bekannt, bevor der französische Philosoph Auguste Comte über die Sterne vorschnell schrieb:
Wir werden nie in der Lage sein, mit irgendeiner Methode ihre chemische Zusammensetzung oder ihre mineralogische Struktur zu studieren … Unsere positiven Kenntnisse über die Sterne sind notwendigerweise auf ihre geometrischen und mechanischen Erscheinungen beschränkt.
Cours de philosophie positive (1835)
Heute, nachdem die Fraunhofer-Strichcodes im Sternenlicht eingehend analysiert wurden, wissen wir in vielen Einzelheiten, woraus die Sterne bestehen, obwohl unsere Aussichten, sie jemals zu besuchen, kaum besser sind als zu Comtes Zeit. Vor ein paar Jahren diskutierte mein Freund Charles Simonyi einmal mit einem früheren Präsidenten der US-Notenbank. Dieser Herr wusste, dass die Wissenschaftler überrascht waren, als die NASA entdeckte, woraus der Mond wirklich besteht. Da er der Erde so viel näher ist als die Sterne, so seine Überlegung, müssten unsere Vermutungen über die Sterne mit noch viel größerer Wahrscheinlichkeit falsch sein. Das klingt plausibel, aber wie Dr. Simonyi ihm deutlich machen konnte, ist es in Wahrheit genau umgekehrt. Ganz gleich, wie weit ein Stern entfernt ist: Er sendet sein eigenes Licht aus, und das ist entscheidend. Mondschein ist reflektiertes Sonnenlicht (eine Tatsache, die D. H. Lawrence nicht glauben wollte – sie war eine Beleidigung für seine dichterische Empfindsamkeit), und deshalb hilft uns sein Spektrum nicht, den chemischen Aufbau des Mondes zu ermitteln.
Moderne Instrumente sind ungleich leistungsfähiger als Newtons Prisma, aber das heutige Fachgebiet der Spektroskopie geht unmittelbar auf seine Entwirrung des Regenbogens zurück. Das Spektrum des von einem Stern ausgesandten Lichtes liefert insbesondere mit
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