Der entzauberte Regenbogen
ähnliche Palette von Strichcodes, aus denen die einzelnen Sprachen jeweils eine begrenzte Ausstattung wählen. Manche Sprachen benutzen dabei Geräusche, die weit vom Spektrum der Mehrzahl aller anderen Sprachen entfernt sind, wie beispielsweise die Klicklaute einiger südafrikanischer Sprachen. Wie bei den Vokalen, so bedienen sich die einzelnen Sprachen auch hier unterschiedlich aus dem gesamten verfügbaren Repertoire. In mehreren indischen Sprachen gibt es einen Laut, der zwischen unserem «d» und «t» liegt. Das französische harte «c» wie in comme ist ein Mittelding zwischen dem harten «c» und dem harten «g» im Englischen (und das «o» steht in der Mitte zwischen den Vokalen in den englischen Wörtern cod und cud ). Durch die unterschiedliche Steuerung von Zunge, Lippen und Stimme lässt sich eine fast unbegrenzte Vielfalt von Konsonanten und Vokalen erzeugen. Werden die Strichcodes hintereinander zu Phonemen, Silben, Wörtern und Sätzen angeordnet, wächst das Spektrum der kommunizierbaren Gedanken ins Unendliche.
Doch zu den Dingen, die man mitteilen kann, gehören auch Bilder, Vorstellungen, Empfindungen, Liebe und Entzücken – Keats demonstriert uns das auf meisterliche Weise.
Mein Herz schmerzt, und ein tauber Krampf durchfährt
Mein Hirn, als ob ich Schierling angerührt
Oder ein trübes Opiat vollends geleert
Grad hätte und zur Lethe sinken würd:
Nicht Neid ist’s auf dein glückliches Geschick,
Vielmehr des Glücks in deinem Glück zuviel –
Daß du, Dryas des Walds, dich leicht beschwingst
Am melodienreichen Knick
Aus Buchengrün und lauter Schattenspiel
Und ruhig aus vollem Hals vom Sommer singst.
«Ode an eine Nachtigall» (1820)
Sie brauchen die Worte nur laut zu lesen, dann tauchen mehr oder weniger klare Bilder vor Ihrem geistigen Auge auf, als stünden Sie benommen vom Gesang der Nachtigall im üppig-grünen sommerlichen Buchenwald. All das lässt sich in gewisser Weise auf ein Muster von Luftdruckwellen zurückführen, das zuerst im Ohr in Sinuskurven zerlegt und dann im Gehirn wieder verwoben wird, um Bilder und Emotionen zu rekonstruieren. Außerdem – und das ist noch seltsamer – kann man das Muster sogar in eine Zahlenfolge umwandeln, und es behält immer noch seine Fähigkeit, die Assoziationen zu transportieren und die Phantasie anzuregen. Bei der Herstellung einer CD, die beispielsweise die Matthäuspassion enthält, werden die steigenden und fallenden Druckwellen mit allen ihren Krickeln und Krakeln in kurzen Abständen gemessen und in digitale Daten umgesetzt. Diese Zahlen könnte man im Prinzip als langweilige, schwarzweiße Nullen und Einsen auf Papierbögen drucken. Werden sie in Druckwellen zurückverwandelt, behalten sie dennoch ihre Fähigkeit, den Zuhörer zu Tränen zu rühren.
Keats meinte es zwar wahrscheinlich nicht wörtlich, aber die Vorstellung, der Gesang der Nachtigall könne als Droge wirken, ist nicht allzu weit hergeholt. Man braucht nur zu bedenken, was der Vogel in der Natur tut und wie ihn die natürliche Selektion dafür ausgerüstet hat. Nachtigallenmännchen müssen das Verhalten der Weibchen und das anderer Männchen beeinflussen. Manche Vogelforscher glauben, der Gesang könne Information vermitteln: «Ich bin ein Männchen der Spezies Luscinia megarhynchos , ich bin paarungsbereit, ich habe ein Revier, ich bin hormonell darauf eingestellt, mich zu paaren und ein Nest zu bauen.» Ja, diese Informationen enthält der Gesang in dem Sinn, dass ein Weibchen, das sie für wahr hält und entsprechend handelt, davon profitieren kann. Aber mir schien eine andere Betrachtungsweise schon immer näher liegend. Der Gesang informiert das Weibchen nicht, sondern er manipuliert . Er verändert weniger das Wissen des Weibchens als vielmehr den physiologischen Zustand seines Gehirns. Er wirkt als Droge.
Man hat bei Tauben- und Kanarienvogelweibchen den Hormonspiegel gemessen und gleichzeitig ihr Verhalten beobachtet. Nach den so gewonnenen experimentellen Befunden wird der sexuelle Zustand der Weibchen unmittelbar durch die stimmlichen Äußerungen der Männchen beeinflusst, wobei sich die Wirkungen über einige Tage hinweg aufsummieren. Die Geräusche eines männlichen Kanarienvogels strömen durch die Ohren des Weibchens in sein Gehirn, und was sie dort auslösen, ist nicht von dem Effekt zu unterscheiden, den ein Wissenschaftler mit der Hormonspritze erzielt. Die «Droge» des Männchens gelangt zwar nicht durch eine Kanüle, sondern durch
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