Der entzauberte Regenbogen
die Ohren in das Weibchen, aber dieser Unterschied erscheint mir nicht besonders gravierend.
Noch plausibler wird die Idee, der Gesang der Vögel könne eine akustische Droge sein, wenn man seine Entwicklung während des Lebens eines einzigen Individuums betrachtet. Ein junger männlicher Singvogel bringt sich das Singen in der Regel durch Üben selbst bei: Er versucht Teile seiner Gesangsübungen mit einem «Vorbild» in seinem Gehirn in Einklang zu bringen, einer vorprogrammierten Vorstellung davon, wie der Gesang seiner Spezies klingen «sollte». Bei manchen Arten, beispielsweise bei der amerikanischen Singammer, ist dieses Vorbild bereits in den Genen eingebaut und programmiert. Bei anderen, so beim Dachsammerfink oder beim europäischen Buchfink, leitet es sich von dem «aufgezeichneten» Gesang eines anderen Männchens ab, einer Erinnerung, die sehr früh im Leben entsteht, wenn das Junge einem erwachsenen Vogel zuhört. Unabhängig von der Herkunft des Vorbildes lernt das junge Männchen ganz allein, seiner Art entsprechend zu singen.
Das ist zumindest ein Weg, um zu beschreiben, wie ein junger Vogel seinen Gesang vervollkommnet. Aber man kann die Sache auch anders betrachten. Letztlich ist der Gesang so gestaltet, dass er eine starke Wirkung auf das Nervensystem eines anderen Individuums derselben Art ausübt, entweder der zukünftigen Partnerin oder eines möglichen Rivalen um das Revier, der vertrieben werden soll. Aber der Jungvogel gehört selbst auch zu dieser Art. Sein Gehirn ist für seine Spezies typisch. Ein Gesang, der seine eigenen Gefühle entfacht, wirkt auf ein Weibchen derselben Art wahrscheinlich genauso anregend. Statt zu behaupten, das junge Männchen gestalte seinen Gesang durch Übung so, dass er zu einem eingebauten Vorbild «passt», könnte man auch sagen: Es übt, weil es ein typisches Mitglied seiner Spezies ist, und es probiert Melodien aus, weil es wissen will, ob es dadurch in Erregung gerät, das heißt, es macht Selbstversuche mit seiner eigenen Droge.
Jetzt können wir den Kreis schließen: Vielleicht ist es gar nicht so verwunderlich, dass der Gesang der Nachtigall auf das Nervensystem von John Keats wie eine Droge wirkte. Er war zwar keine Nachtigall, aber immerhin ein Wirbeltier, und die meisten Drogen, die bei Menschen wirken, haben bei anderen Wirbeltieren vergleichbare Effekte. Von Menschen hergestellte Rauschmittel entstanden nach der Methode «Versuch und Irrtum» – ein vergleichsweise grobes Verfahren. Die natürliche Selektion dagegen hatte Tausende von Generationen Zeit, um ihre Drogenproduktion fein auf die Empfänger abzustimmen.
Sollen wir nun an Keats’ Stelle über einen solchen Vergleich empört sein? Nach meiner Überzeugung hätte der Dichter selbst nichts dagegen gehabt – und Coleridge noch weniger. Die «Ode an eine Nachtigall» erkennt den Vergleich mit der Droge unausgesprochen an und macht ihn wunderbar plastisch. Es ist keine Herabwürdigung der menschlichen Gefühle, wenn wir sie zu analysieren und zu erklären versuchen; wir mindern ihren Wert damit ebenso wenig, wie der Wert des Regenbogens geschmälert wird, wenn ein Prisma ihn entwirrt.
In diesem und dem vorangegangenen Kapitel habe ich den Strichcode als Symbol für genaue Analysen mit all ihrer Schönheit gebraucht. Gemischtes Licht wird in den Regenbogen der Farben zerlegt, aus denen es zusammengesetzt ist, und jeder sieht etwas Schönes. Das ist eine erste Analyse. Bei genauerem Hinsehen erkennt man feine Linien und eine neue Eleganz, die Eleganz des Erkennens, der wachsenden Ordnung und des Verstehens. Der Code der Fraunhofer-Linien sagt uns etwas über die genaue Elementzusammensetzung weit entfernter Sterne. Ein genau vermessenes Streifenmuster ist eine verschlüsselte Nachricht, die über Parsecs zu uns gelangt. Allein schon die Ökonomie der Methode hat etwas Elegantes, wenn man auf diesem Weg Detailkenntnisse über einen Stern gewinnt, während man früher glaubte, das sei nur mit dem aufwendigen Unternehmen einer Reise möglich, die zweitausendmal so lange dauert wie das Leben eines Menschen. Ähnliches finden wir, wenn wir uns die Formantenstreifen der Sprache ansehen oder den harmonischen Strichcode der Musik. Auch der Strichcode der Jahresringe von Bäumen hat etwas Elegantes: Die Streifen auf altem Mammutbaumholz sagen uns genau, in welchem Jahr vor Christus der Baum gesät wurde und welches Wetter in jedem einzelnen der darauf folgenden Jahre herrschte (denn die
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