Der entzauberte Regenbogen
an: Die Frau wird an einer Reihe von Männern vorübergeführt, von denen die Polizei einen bereits aus anderen Gründen für den Täter hält. Die anderen wurden einfach von der Straße geholt, oder es handelt sich um arbeitslose Schauspieler oder Polizisten in Zivilkleidung. Benennt die Frau einen dieser Strohmänner, gilt ihre Identifizierung als unglaubwürdig. Wählt sie aber denjenigen, den die Polizei ohnehin verdächtigt, wird ihre Beschuldigung ernst genommen.
Zu Recht, insbesondere wenn zahlreiche Personen in der Reihe stehen. Jeder von uns ist Statistiker genug, um den Grund zu erkennen. Der anfängliche Verdacht der Polizei muss noch zweifelhaft sein – sonst wäre es witzlos, die Frau überhaupt zur Identifizierung heranzuziehen. Uns imponiert die Übereinstimmung zwischen der Aussage der Frau und den davon unabhängigen Beweisen der Polizei. Besteht die «Reihe» nur aus zwei Männern, würde die Zeugin selbst dann mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent den ohnehin Verdächtigen aussuchen, wenn sie nur nach dem Zufallsprinzip entscheidet – oder wenn sie sich irrt. Da sich die Polizei ebenfalls irren kann, stellt das eine unangemessen große Gefahr einer Ungerechtigkeit dar. Stehen aber 20 Männer in der Reihe, hat die Frau nur eine Chance von 1 zu 20, durch Raten oder Irrtum den Mann zu benennen, den die Polizei schon im Visier hat. Wenn ihre Identifizierung und der anfängliche Verdacht der Polizei dennoch übereinstimmen, hat es wahrscheinlich etwas zu bedeuten. Das Entscheidende ist hier die Beurteilung des zufälligen Zusammentreffens oder die Wahrscheinlichkeit, dass etwas allein durch Zufall geschieht. Noch geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines bedeutungslosen Zusammentreffens, wenn die Reihe aus 100 Männern besteht, denn eine Fehlerquote von 1 zu 100 ist deutlich kleiner als die von 1 zu 20. Je länger die Reihe, desto sicherer am Ende der Beweis.
Unsere Intuition sagt uns auch, dass die Männer, die in der Reihe stehen, nicht völlig anders aussehen dürfen als der Verdächtige. Wenn die Frau ursprünglich ausgesagt hat, der Täter habe einen Bart getragen, und wenn die Polizei nun einen bärtigen Verdächtigen festgenommen hat, wäre es eindeutig ungerecht, ihn in eine Reihe mit 19 glatt rasierten Männern zu stellen. Dann könnte er sich ebenso gut allein präsentieren. Selbst wenn die Frau über das Aussehen ihres Angreifers keine Angaben gemacht hat und wenn dann ein Punker mit Lederjacke in Arrest genommen wurde, wäre es falsch, wenn in der Reihe außer ihm nur Geschäftsleute in Nadelstreifen stünden. Zusätzliches Gewicht haben solche Überlegungen in Staaten mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Dass man einen farbigen Verdächtigen nicht in einer Reihe mit lauter Weißen präsentieren sollte oder umgekehrt, liegt auf der Hand.
Wenn wir überlegen, wie wir einen Menschen erkennen, fällt uns zuerst das Gesicht ein. Gesichter können wir besonders gut unterscheiden. Wie wir in anderem Zusammenhang noch sehen werden, hat sich offenbar ein besonderer Teil unseres Gehirns in der Evolution speziell zu diesem Zweck entwickelt, und bestimmte Schädigungen des Gehirns machen die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, zunichte, während das Sehvermögen ansonsten nicht beeinträchtigt ist. Gesichter eignen sich so gut zur Erkennung, weil sie so vielgestaltig sind. Von eineiigen Zwillingen abgesehen, trifft man selten einmal zwei Menschen, deren Gesichter man verwechseln könnte. Das Phänomen ist aber nicht völlig unbekannt, und einen Schauspieler kann man so schminken, dass er einer anderen Person ähnelt. Diktatoren beschäftigen häufig Doubles, die an ihrer Stelle auftreten, wenn sie zu beschäftigt sind oder weil der Doppelgänger die Schüsse von Attentätern auf sich ziehen soll. Man hat vermutet, charismatische Führer trügen deshalb so häufig Schnauzbärte (Hitler, Stalin, Franco, Saddam Hussein, Oswald Mosley), damit sie leichter gedoubelt werden können. Aus demselben Grund ließ sich Mussolini möglicherweise den Schädel rasieren.
Nicht nur eineiige Zwillinge, sondern auch ganz gewöhnliche enge Verwandte sehen einander manchmal so ähnlich, dass sich Menschen, die sie nicht gut kennen, täuschen lassen. (Der zerstreute Professor, der mein College leitete, hielt angeblich einmal einen Studenten auf und sagte zu ihm: «Ich weiß nie genau, waren Sie es oder Ihr Bruder, der im Krieg gefallen ist?» Aber wie die meisten Geschichten über zerstreute Professoren,
Weitere Kostenlose Bücher