Der entzauberte Regenbogen
man einen Juden an seiner DNA erkennen kann, aber bestimmte Gene sind charakteristisch für Menschen, deren Vorfahren beispielsweise aus einzelnen Regionen Mitteleuropas stammen, und es gibt statistische Zusammenhänge zwischen dem Vorkommen gewisser Gene und der Zugehörigkeit zur Gruppe der Juden. Es ist nicht zu leugnen: Wäre Hitlers Regime im Besitz einer nationalen DNA-Datenbank gewesen, hätte es mit Sicherheit entsetzliche Wege gefunden, sie zu missbrauchen.
Gibt es Möglichkeiten, um die Gesellschaft vor solchen möglichen Übeln zu schützen und gleichzeitig den Nutzen für eine verbesserte Verbrechensbekämpfung zu bewahren? Da bin ich mir nicht sicher. Nach meiner Überzeugung wäre es zumindest schwierig. Man könnte ehrliche Bürger vor Versicherungsunternehmen und Arbeitgebern schützen, indem man die nationale Datenbank auf nichtcodierende Abschnitte des Genoms beschränkt. Die Angaben würden sich nur auf die Tandemwiederholungen im Genom beziehen, nicht aber auf Gene, die echte Wirkungen haben. Das würde verhindern, dass Versicherungsmathematiker unsere Lebenserwartung ausrechnen und Talentsucher unsere Fähigkeiten prophezeien. Aber es böte keinen Schutz dagegen, dass wir (oder Erpresser) Wahrheiten über Vaterschaftsverhältnisse erfahren, die wir lieber nicht wüssten. Ganz im Gegenteil. Als man die Knochen von Josef Mengele anhand des Blutes seines Sohnes identifizierte, stützte man sich ausschließlich auf die Tandemwiederholungen in der DNA. Ich kann nicht erkennen, dass sich dieser Einwand ohne weiteres entkräften ließe, außer vielleicht mit dem Hinweis, dass DNA-Tests immer einfacher werden, sodass man die Vaterschaft ohnehin in jedem Fall nachweisen kann, auch ohne auf eine nationale Datenbank zurückzugreifen. Wenn ein Mann den Verdacht hat, dass er in Wirklichkeit nicht der Vater «seines» Kindes ist, kann er schon heute das Blut des Kindes mit seinem eigenen vergleichen lassen. Eine nationale Datenbank braucht er dazu nicht.
Nicht nur vor Gericht stützen sich Untersuchungsgremien und andere Institutionen, deren Aufgabe es ist, die wahren Vorgänge bei einem Verbrechen oder Unfall aufzuklären, häufig auf die Naturwissenschaft. Wissenschaftler werden als Sachverständige herangezogen, wenn es um Tatsachen geht: um die Einzelheiten der Materialermüdung, um die Ansteckungsgefahr beim Rinderwahnsinn und so weiter. Nachdem sie dann ihr Gutachten abgegeben haben, werden sie entlassen, sodass diejenigen, die mit dem ernsten Vorgang der eigentlichen Entscheidung beauftragt sind, ihrer Tätigkeit nachgehen können. Unausgesprochen wird damit gesagt, dass Wissenschaftler zwar gut detaillierte Tatsachen feststellen können, dass aber andere – häufig Anwälte oder Richter – besser qualifiziert sind, diese Tatsachen zusammenzufassen und Handlungsempfehlungen abzugeben. Doch im Gegenteil: Man kann mit gutem Grund behaupten, dass die naturwissenschaftliche Denkweise sich nicht nur zum Aufzählen der Einzelheiten eignet, sondern auch dazu, das endgültige Urteil zu fällen. Wenn es beispielsweise einen Flugzeugabsturz oder heftige Ausschreitungen nach einem Fußballspiel gegeben hat, ist ein Naturwissenschaftler als Leiter der Untersuchung unter Umständen besser geeignet als ein Richter, und zwar nicht wegen seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse, sondern wegen der Methoden, mit denen er Dinge herausfindet und Entscheidungen trifft.
Das Beispiel der DNA-Fingerabdrücke legt eine wichtige Vermutung nahe: Vielleicht wären Anwälte bessere Anwälte, Richter bessere Richter, Abgeordnete bessere Abgeordnete und Bürger bessere Bürger, wenn sie mehr über Naturwissenschaft wüssten und vor allem wenn sie stärker wie Naturwissenschaftler denken würden. Das liegt nicht nur daran, dass Naturwissenschaftler die Erkenntnis der Wahrheit höher schätzen als den Sieg in einem Prozess. Richter und Entscheidungsträger im Allgemeinen könnten bessere Entscheidungen fällen, wenn sie in der Kunst des statistischen Denkens und der Wahrscheinlichkeitsabschätzung besser bewandert wären. Dieses Thema wird auch in den beiden nächsten Kapiteln, die sich mit Aberglauben und dem so genannten Paranormalen befassen, wieder zur Sprache kommen.
6 Märchen, Geister, Sternendeuter
Leichtgläubigkeit ist die Schwäche des Mannes und die Stärke der Kinder.
Charles Lamb, Essays of Elia (1823)
Wir sehnen uns nach Wundern. Es ist eine poetische Sehnsucht, die eigentlich durch echte Wissenschaft gestillt
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