Der Erbe der Nacht
los.
»Wohin?«
»Zurück!« keuchte er. »Zur Uhr. Vielleicht … schaffen wir es. Vielleicht können wir das Tor schließen, ehe er unsere Spur aufnimmt.«
Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber Großvater riß plötzlich seinen Arm los und stürmte so schnell die Treppe hinauf, daß ich mit einemmal Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten.
Im Laufen sah ich mich um und plötzlich begriff ich, warum er so verzweifelt losgerannt war.
Wir wurden verfolgt. Noch war der Verfolger selbst nicht zu sehen, doch er mußte gigantisch sein, denn die Treppe erzitterte unter seinen Schritten, und an der Wand zeichnete sich ein unförmiger, riesenhafter Schatten ab, der nichts Menschliches an sich hatte.
Der Anblick gab mir neue Kraft. Ich hetzte hinter meinem Großvater her, warf mich dicht hinter ihm durch die Tür und vergeudete einige wertvolle Sekunden damit, den Riegel vorzulegen. Währenddessen humpelte mein Großvater bereits auf die Uhr und ihr glühendes Inneres zu.
»Schnell!« schrie er. »Um Gottes Willen, beeil dich, Robert!«
»Was war das?« brüllte ich zurück. »Großvater was ist das für ein Ding?«
»Der Wächter«, antwortete Großvater. Er hatte die Uhr erreicht, zögerte aber, sie zu betreten. Ich hörte, wie die Dielenbretter draußen unter dem Gewicht des unsichtbaren Monstrums ächzten. »Großer Gott, Robert, verzeih mir. Ich …
ich dachte, ich könnte es für dich tun, aber ich habe alles verdorben!«
»Für mich tun? Was?«
Großvater antwortete nicht, aber ich hätte ihn auch nicht verstanden, wenn er es getan hätte, denn in diesem Augenblick krachte etwas mit der Gewalt einer heranrasenden Dieselloko-motive gegen die Tür und zermalmte sie. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich inmitten der wirbelnden Trümmer einen monströsen, mißgestalteten Umriß, dann fühlte ich mich von meinem Großvater gepackt und mit aller Kraft in die Uhr geschleudert.
Es war genau wie vorhin ich stürzte aus der Uhr heraus und kugelte hilflos über den Teppich, ohne etwas dazu getan zu haben. Blitzartig rollte ich mich ab, sprang auf die Füße und wirbelte herum.
Und was nun geschah, sollte ich in meinem ganzen Leben nicht wieder vergessen, auch wenn es alles in allem nicht länger als eine Sekunde dauerte. Inmitten des kalten grünen Feuers erschien mein Großvater, taumelnd vor Schwäche, blutend und mit angstverzerrtem Gesicht. Keuchend wankte er aus der Uhr hervor und griff noch in derselben Bewegung nach der Tür, um sie zuzuwerfen. Aber er kam nicht mehr dazu.
Hinter ihm tauchte eine zweite Gestalt auf. Für einen zeitlo-sen Moment sah ich das Monster, das uns verfolgt hatte, und dieser Anblick lähmte mich vor Entsetzen. Es glich nichts, was ich je zuvor gesehen hatte, nichts, was ein menschlicher Geist je ersinnen könnte, und sei er noch so krank. Ein riesiges, pupillenloses Auge starrte mich voll abgrundtiefer Bosheit an, und ich spürte einen Haß, der so alt wie dieses Universum war, einen unauslöschlichen, mörderischen Haß auf alles, was dachte und fühlte.
Dann zuckte ein dünner, grellroter Blitz aus der Mitte dieses Auges, traf meinen Großvater an der Brust und tötete ihn auf der Stelle.
Es dauerte zwei Tage, bis ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde; besser gesagt, nach Hause ging, gegen den ausdrücklichen Willen der Ärzte. Ich erinnerte mich nur lückenhaft, was weiter geschehen war, an jenem Abend mein Großvater war sterbend in meinen Armen zusammengebrochen, doch zuvor hatte er noch mit allerletzter Kraft die Uhrtür zugeschmettert, und etwas Unsichtbares, Gigantisches war von innen dagegen-geprallt, das hatte ich ganz genau gehört. Für einen Moment war die Uhr wie unter einem Hammerschlag erbebt, und dann war plötzlich alles voller Rauch und Flammen und Hitze gewesen, und das nächste, woran ich mich klar erinnerte, war die durchsichtige Sauerstoffmaske, die mir ein Sanitäter im Krankenwagen während der Fahrt in die Klinik auf Mund und Nase preßte.
Am nächsten Tag hatte der obligatorische Besuch der Polizei stattgefunden, die mit perfekt geschauspielerter Anteilnahme, aber großer Beharrlichkeit die Fragen stellte, die sie eben stellen mußte. Nicht, daß ich sie hätte beantworten können. Ich hatte keine Ahnung, wodurch der Brand im Arbeitszimmer ausgebrochen war; ich erinnerte mich nicht einmal, daß es überhaupt gebrannt hatte. Vermutlich war das Feuer entstanden, nachdem ich das Bewußtsein verloren hatte. Und auch das war etwas, was ich mir
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