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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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unbequemen Holzbank auf und kam mir mit fragendem Gesicht entgegen. »Nun?«
    »Er hat mir nahegelegt, die Stadt nicht zu verlassen, das ist alles«, sagte ich seufzend.
    »Er hat was?« rief Gray empört aus.
    »Mich quasi unter Hausarrest gestellt«, antwortete ich. »Jedenfalls lief es darauf hinaus. Und ganz unrecht hat er mit seinem Mißtrauen ja tatsächlich nicht.«
    Gray fegte meine Antwort mit einer wütenden Bewegung beiseite, trat an mir vorbei und streckte die Hand nach der Türklinke aus. »Warten Sie hier auf mich«, sagte er. »Ich kläre die Angelegenheit.«
    Ich hielt ihn mit einem raschen Griff zurück. »Das hat doch keinen Sinn«, sagte ich. »Ich kann froh sein, daß Card mich nicht hier behalten hat.«
    »Oh nein«, schnappte Gray. Seine grauen, von einem Netz-werk winziger Fältchen eingefaßten Augen blitzten. »Ich kenne Leute wie Card. Wenn er keinen Dämpfer bekommt, wird er Ihr Schweigen als Zeichen von Furcht auffassen und das nächste Mal einen Schritt weiter gehen. Warten Sie unten in der Halle auf mich. Es dauert nur einen Moment.« Ehe ich Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, drückte er die Klinke herunter und stürmte in Cards Büro, ohne sich die Mühe zu machen anzuklopfen.
    Einen Moment lang blickte ich ihm kopfschüttelnd nach, dann wandte ich mich nach links und ging langsam den nur schwach erhellten Korridor zur Treppe hinab. Vermutlich hatte Gray recht man mußte Typen wie Card auf die Finger klopfen, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, daß sie anfin-gen, mit einem Katz und Maus zu spielen. Aber meine Fähigkeit, Konflikte auszutragen, war für heute erschöpft. Ich war müde, fühlte mich schwach, hatte Hunger und Durst, und in meinem Kopf drehte sich alles. Im Grund wollte ich nur nach Hause. Ich beschloß, nicht auf Gray zu warten. Er würde das sicher verstehen.
    Ich ging die Treppe hinunter, blieb einen Moment vor der geschlossenen Glastür stehen und trat dann in die hohe, nach vorne offene Säulenhalle hinaus. Obwohl es für die Jahreszeit kalt war, fühlte ich mich im Freien einfach wohler. Es war absurd die Männer, die in dem wuchtigen Gebäude von Scotland Yard ihren Dienst versahen, und ich sollten eigentlich Verbündete sein. Aber im Augenblick waren sie meine Feinde.
    Fröstelnd zog ich den Mantel enger um die Schultern zusammen, trat an den Straßenrand und winkte einer Taxe. Die ersten beiden Wagen rollten einfach vorbei, obgleich ich deutlich erkennen konnte, daß sie nicht besetzt waren, aber die Fahrer hatten wohl meinen zerfetzten Mantel und den blutigen, zerrissenen Anzug darunter gesehen und daraus und aus dem Anblick des Hauses, vor dem ich stand, einen zwar verständlichen, aber nichtsdestoweniger falschen Schluß gezogen. Erst der dritte Wagen hielt an, und der Fahrer fragte mich brummig nach der Adresse, zu der er mich bringen sollte. Als ich sie ihm nannte, fiel dem Mann vor Staunen die Kinnlade herunter, denn der noble Ashton Place war wohl das Letzte, was er erwartet hatte. Aber an diesem Tag vermochte ich mich nicht recht über seine Verblüffung zu amüsieren. Ich fühlte mich niedergeschlagen und mutlos wie selten zuvor in meinem Leben.

    H. P. hatte sich meinen Bericht schweigend angehört, aber ich wartete vergebens darauf, daß er antwortete oder auch nur mit dem Verziehen einer Miene auf meine Worte reagierte. Er war ein wenig blaß, und in seinen Augen stand noch immer der gleiche besorgte Ausdruck wie am Morgen, wenngleich er sich inzwischen sichtlich etwas gefangen hatte. Er wirkte wie ein Mann, den das, was er hörte, nicht erschütterte, ganz einfach, weil er es erwartet hatte. Er saß im Arbeitszimmer auf einem Stuhl, der den Brand halbwegs unversehrt überstanden hatte, und seine Hand lag auf dem Ledereinband des Buches, in dem er gelesen hatte, als ich zurückkam. Es war einer der Bände aus der Bibliothek meines Großvaters. ›Chaat Aquadihgen‹ prangte in dünnen, goldgeprägten Lettern auf dem Einband. Der Name sagte mir nichts, doch irgendwie berührte er mich unangenehm.
    Aber ich hatte kein Wort darüber verloren, weder darüber noch über den Umstand, daß er in meiner Abwesenheit ungefragt das Arbeitszimmer betreten hatte. Es glich ohnehin einem Wunder, daß das Buch den Brand überstanden hatte. Als ich heute morgen hier hereingekommen war, hatte ich schon befürchtet, von der unersetzlichen Sammlung nur noch verkohlte Fetzen retten zu können.
    »Ich verstehe einfach nicht, was das alles bedeutet«, sagte ich
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