Der Erbe der Nacht
beschäftigen sollte. Schlechte Dinge, die über kurz oder lang ihren Preis fordern. Bei Ihrem Großvater war es am Ende sein Leben.« Sie legte den Kopf auf die Seite und sah mich mit einer Mischung aus Mißtrauen und Mitleid an. »Und jetzt sind Sie auf dem besten Weg, den gleichen Fehler zu begehen wie er.«
»Unsinn!« widersprach ich. »Ich habe nur gewisse Dinge herausgefunden. Ich habe bestimmt nicht vor, wie mein Großvater zu enden.«
»Lügen Sie mich nicht an«, sagte Mary freundlich. »Sie haben herausgefunden, was Ihr Großvater wirklich getan hat, und jetzt wollen Sie irgend etwas gutmachen, wie? Widersprechen Sie mir nicht, Robert ich kenne diesen Blick. Ich habe all das schon einmal erlebt, vor fünfundzwanzig Jahren.
Damals saß Ihr Großvater hier, genau an diesem Tisch, und er hatte den gleichen Blick wie Sie jetzt. Ich habe ihn gewarnt, aber er hat nicht auf mich gehört. Sie glauben, diese Mächte hätten Ihren Großvater umgebracht, und jetzt wollen Sie sich rächen. Aber Rache hat noch nie etwas wieder gutgemacht. Sie nutzt niemandem.«
»Das ist nicht ganz richtig«, widersprach ich. »Mein Großvater wurde umgebracht, das stimmt, aber er wollte nichts heraufbeschwören. Er … hat sich geopfert, Mary. Für mich!«
Mary schien nicht im mindesten beeindruckt.
»Nachdem er selbst diese Gewalten herausgefordert hat«, sagte sie ungerührt. »Was glauben Sie, Robert? Denken Sie, man kann mit dem Feuer spielen, ohne sich die Finger zu verbrennen? Ich weiß nicht, was Ihr Großvater genau getan hat, aber er hat sich mit Dingen beschäftigt, die nicht für Menschen sind. Es steht schon in der Bibel, wissen Sie das nicht? Die Sünden der Väter sollen auf ihre Kinder und Kindeskinder zurückfallen. Bis ins siebente Glied.«
Ob sie wohl jemals ahnte, wie nahe sie der Wahrheit damit kam?
»Hören Sie auf eine alte Frau, Robert, und lassen Sie die Finger davon«, fuhr sie fort. »Zerstören Sie nicht auch noch Ihr Leben. Sie machen gar nichts gut, wenn Sie sich opfern. Das macht Ihren Großvater nicht wieder lebendig.«
»Und wenn es schon zu spät ist?« fragte ich leise.
»Das ist es nie«, behauptete Mary. »Gehen Sie fort. Verreisen Sie für ein Jahr oder zwei, oder verlassen Sie dieses Haus und ziehen Sie in eine moderne Stadtwohnung. Es ist dieses Haus, Robert, irgend etwas in ihm, das Ihren Großvater getötet hat. Es ist böse.« Sie lächelte, als sie meinen verwunderten Blick bemerkte. »Ich habe es nie gemocht«, fuhr sie fort.
»Niemand mag es wirklich. Haben Sie sich nie Gedanken darüber gemacht, wieso wir so oft neues Personal haben?
Niemand hält es lange hier aus.«
»Aber Sie sind doch geblieben.«
Mary nickte. »Das stimmt. Aber ich bin nur um Ihres Groß-
vaters willen geblieben. Er brauchte mich. Und Sie auch.« Sie zerdrückte ihre Zigarette auf meiner Untertasse, wedelte mit der Hand in der Luft herum, um den blaugrauen Qualm zu vertreiben, und stand auf. »Und jetzt machen Sie, daß Sie ins Bett kommen, Sie dummer nichtsnutziger Junge, ehe ich andere Seiten aufziehe«, fügte sie in schlecht gespieltem Zorn hinzu. »Ich will Sie bis morgen früh nicht mehr hier sehen, verstanden?«
Ich gehorchte Mary, schon weil ich gar keine andere Wahl hatte mein gequälter Körper verlangte einfach sein Recht, und das schlug sich in fast vierundzwanzig Stunden ununter-brochenem Schlaf nieder. Ich hatte weder Alpträume noch andere Visionen, sondern schlief zum erstenmal seit Wochen tief und sehr erquickend. Mary verlor kein Wort mehr über unser morgendliches Gespräch, auch nicht, wenn wir allein waren, und das Leben normalisierte sich allmählich wieder. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte nach jener fürchterlichen Nacht, aber es geschah nichts. Das Haus war plötzlich wieder ein Haus, nicht mehr und nicht weniger, die Schatten waren Schatten, und die Dunkelheit war ein guter Freund und nicht ein schwarzer Vorhang, hinter dem Schimären lauerten.
Und ich kam zu einem Entschluß. Es waren zu einem nicht geringen Teil Marys Worte an jenem Morgen, die mir halfen, die Entscheidung zu treffen.
Wahrscheinlich ohne es selbst zu ahnen, war sie der Wahrheit viel näher gekommen als irgendein anderer, H. P. und mich eingeschlossen. Die Geschichte über die Großen Alten und meinen Vater mochte wahr sein oder nicht, darauf kam es gar nicht an. Worauf es ankam, war, daß es schlechte Dinge waren. Wie Mary es ausgedrückt hatte, Dinge, die nicht für Menschen sind.
Man ging
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