Der Erbe der Nacht
auf, als sie sich umwenden und zu ihrer eigentlichen Arbeit zurückkehren wollte. »Bleiben Sie, Mary«, bat ich. »Nehmen Sie sich das Branchenbuch und rufen Sie ein paar Immobilienmakler an. Nur die namhaftesten.
Machen Sie mit zweien oder dreien einen Termin aus, am besten gleich für morgen.«
Mary sah mich fragend an.
»Sie vermuten richtig«, sagte ich. »Ich werde diesen Schuppen hier verkaufen. Wir ziehen in ein anderes Haus.«
Mary wurde so bleich, als hätte ich von ihr verlangt, eine Ratte zu verschlucken. »Sie wollen … was?« krächzte sie. In ihrer Stimme schwang pures Entsetzen mit.
»Umziehen«, sagte ich. »Überrascht Sie das?«
»Überraschen?« Mary keuchte. Selbst nach dem Tod meines Großvaters hatte ich sie nicht so fassungslos gesehen wie in diesem Augenblick. »Aber das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Sir!« flüsterte sie.
»Und warum nicht?« Ehrlich gesagt ich verstand Marys Reaktion nicht so ganz. Nicht nach dem, was sie mir erst vor ein paar Tagen gesagt hatte.
»Aber das … das geht doch nicht, Sir«, stammelte sie. »Sie
… Sie können nicht …«
»Was kann ich nicht?« fragte ich lauernd.
»Aber dieses Haus …« Mary breitete hilflos die Arme aus.
»Ich meine, es … es hat Ihrem Großvater gehört, u …und es sollte Ihnen gehören, später. Er hat immer gesagt, daß er …
daß er dieses Haus nur für Sie aufbewahrt, und … und … wir alle sind doch hier zu Hause!«
Zu Hause? Aber sie hatte doch selbst gesagt, daß …
»Aber Sie haben mir doch selbst erzählt, daß Sie sich hier nie wohlgefühlt haben, Mary«, sagte ich verwirrt.
»Ich?« Mary starrte mich an, als zweifle sie an meinem Verstand. »Ich soll das gesagt haben?«
»Aber natürlich. Vor ein paar Tagen erst, als wir uns über dieses Haus unterhielten. Sie sagten, daß Sie schon immer Angst vor diesem Haus gehabt haben.«
Mary war diplomatisch genug, mir nicht zu widersprechen, aber der Blick, mit dem Sie mich maß, war eindeutig. In diesem Moment hielt sie mich wahrscheinlich für total überge-schnappt. Und plötzlich begriff ich. Es war ganz genau so, wie H. P. gesagt hatte.
Auch sie gehörte dazu, ohne es auch nur zu ahnen, ebenso wie dieser Inspektor, der Antiquitätenhändler … Das war nicht Mary gewesen, mit der ich an jenem Morgen gesprochen hatte.
Nicht die Mary, die mir jetzt gegenüberstand. Jemand etwas
hatte sie gezwungen, diese Worte zu sagen, einzig und allein aus dem Grund, den H. P. genannt hatte: Sie versuchten mit aller Macht, mich aus diesem Haus fortzubekommen.
Plötzlich war mir eiskalt.
»Es ist … gut, Mary«, sagte ich unsicher. »Vergessen Sie es.
Vergessen Sie auch die Makler. Ich werde … noch eine Weile über alles nachdenken.«
»Tun Sie das, Sir«, sagte Mary, sichtlich erleichtert.
»Und wenn Sie irgend etwas brauchen …«
»Melde ich mich, sicher doch.« Aber das rief ich ihr schon nur noch über die Schulter hinweg zu. Ich rannte so schnell in mein Zimmer hinauf, als wäre ich auf der Flucht.
Und eigentlich war ich das ja auch.
H. P. meldete sich am nächsten Tag wieder bei mir auf eine für ihn recht ungewöhnliche Weise: Er benutzte das Telefon.
Ich ging gerade meiner Lieblingsbeschäftigung nach nämlich tatenlos herumzusitzen und mir selbst leid zu tun , als das Telefon läutete, und H. P. hielt sich nicht lange mit überflüssigen Dingen wie Begrüßungsformeln und einleitenden Floskeln auf. Sein erster Satz lautete: »Hast du es dir überlegt?«
Ich antwortete nicht gleich, sondern starrte den Telefonhörer einen Moment lang feindselig an, und er muß wohl gespürt haben, wie wenig mich sein Anruf erfreute, denn er fügte hinzu: »Ich kann mir vorstellen, in welcher Lage du bist, Robert, aber «
»Nein«, unterbrach ich ihn grob. »Das kannst du nicht. Und um deine Frage zu beantworten: Ich habe es mir überlegt. Es bleibt dabei. Ich will mit alledem nichts mehr zu tun haben.
Endgültig.«
H. P. seufzte. »Aber du hast gar keine andere Wahl, Robert«, sagte er geduldig. »Sieh das doch ein. Du wirst dort erscheinen.«
»Warum fragst du mich denn dann überhaupt noch?« murrte ich. »Wenn sowieso alles schon klar ist «
»Weil es einen Unterschied macht, ob du gegen deinen Willen in diese Auseinandersetzung hineingezogen wirst oder sie gut vorbereitet und mit Hilfe einiger Freunde angehst«, erklärte er.
»Freunde?« Das Wort kam mir mit abfälligerer Betonung über die Lippen, als ich selbst gewollt hatte, und ich spürte, wie
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