Der Erbe der Nacht
anderen Seite des Platzes, nur wenige Meter hinter meinem Porsche, stand eine schwarze Limousine und die beiden Männer darin gaben sich alle Mühe, so zu tun, als wären sie nicht da. H. P. hatte vorgesorgt.
Aber schließlich war auch ich nicht ganz blöd. Ich stieg in den Porsche, fuhr gemächlich in die dem Bahnhof entgegengesetzte Richtung los und stellte ihn im erstbesten Parkhaus ab, an dem ich vorbeikam.
Und danach fuhr ich eine gute Stunde lang mit Bus und Untergrundbahn kreuz und quer durch die Stadt, lief durch die Markthallen und ein großes Kaufhaus und beehrte drei verschiedene Kneipen mit einem kurzen Besuch, worauf ich sie jedesmal durch die Hintertür verließ.
Erst als ich überzeugt war, alle etwaigen Verfolger abgeschüttelt zu haben, fuhr ich zum Bahnhof. Trotz der Odyssee, die ich hinter mir hatte, blieb noch eine gute halbe Stunde bis zur Abfahrt meines Zuges. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl in meiner Haut. H. P. war kein Idiot. Wenn sein Mann ihm mitteilte, daß er meine Spur verloren hatte, würde er rasch die richtigen Schlüsse ziehen. Das einzige, was mich beruhigte, war die Tatsache, daß der Bahnhof vor Menschen nahezu aus den Nähten platzte; es schien eine Unzahl von Leuten zu geben, die die Stadt verlassen wollten. Im Augenblick gab mir der Trubel auf den Bahnsteigen jedenfalls genügend Deckung, selbst wenn H. P. einen seiner Männer hergeschickt hatte. Und wenn ich erst einmal im Zug war, würde ich weitersehen.
Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ich ihn entdeckte. Rowlf. Sein hektisch gerötetes Bulldoggengesicht überragte die Menge um soviel, daß es nicht zu übersehen war, selbst auf die große Entfernung. Er stand vor der Tafel mit den Abfahrtszeiten und blickte abwechselnd auf die kleingedruck-ten Buchstaben und die Normaluhr, die über seinem Kopf von der Decke hing. Dann schlug er den Jackenkragen hoch und ging mit weit ausgreifenden Schritten zu der Teebude am anderen Ende des Bahnhofes hinüber. Ich überlegte einen Moment, ob ich den Spieß einfach umdrehen und ihm folgen sollte, entschied mich aber dann dagegen. Die Gefahr, erkannt zu werden, war zu groß.
Statt dessen wandte ich mich zum Bahnhofscafé. Es brachte niemandem etwas, wenn ich eine halbe Stunde auf dem Bahnhof herumstand. Und unter den Menschen im Café war ich so sicher wie hier.
Ich betrat das Lokal, suchte mir einen Platz in der hintersten Ecke, weit von der Tür entfernt und so, daß ich den Eingang im Auge behalten konnte, ohne sofort selbst gesehen zu werden, und bestellte einen Kaffee.
Nach einer Weile näherten sich Schritte meinem Tisch. Ich sah auf und griff gleichzeitig in die Tasche, um eine Münze hervorzuholen.
Aber es war nicht der Ober, wie ich erwartet hatte.
Der Mann vor mir war ein Riese mit schütterem weißem Haar und dem grimmigsten Gesichtsausdruck, der mir jemals untergekommen war.
»Card!« entfuhr es mir. »Sie?«
Er nickte auf eine sehr ungnädige, abgehackte Weise , zog sich unaufgefordert einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Das wackelige Möbelstück ächzte unter seiner Leibes-fülle, aber Card schien es nicht einmal zu bemerken. Finster starrte er mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Es freut mich, daß Sie sich wenigstens noch an meinen Namen erinnern, Sir«, sagte er. »Um ehrlich zu sein, hatte ich schon fast gefürchtet, daß Sie unser Gespräch von vergangener Woche bereits vergessen haben könnten.«
Ich ignorierte den hämischen Unterton in seiner Stimme, legte den Kopf auf die Seite und sah in scharf an. »Worauf wollen Sie hinaus, Inspektor?« fragte ich.
Card lächelte kalt. »Nicht doch, Sir. Ich will auf gar nichts hinaus. Sie wollen verreisen?«
»Ich brauche ein wenig Abwechslung«, antwortete ich bissig.
Card seufzte. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der gleichermaßen gelangweilt wie ergeben wirkte. Unauffällig schielte ich an ihm vorbei zum Ausgang. Die beiden Männer in fast identischen Trenchcoats, die rechts und links der Tür standen und interessiert in ihren Zeitungen blätterten, waren bestimmt noch nicht dagewesen, als ich das Café betreten hatte. Den Gedanken an Flucht konnte ich mir also gleich aus dem Kopf schlagen. Ich straffte mich und sah Card herausfordernd an. »Was wollen Sie von mir, Inspektor?« fragte ich noch einmal. »Ist es neuerdings strafbar zu verreisen?«
»Ich hatte Sie gebeten, die Stadt nicht zu verlassen.«
Ich machte eine abfällige Handbewegung. »Das war vor einer
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