Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
nahm er keinen Anteil mehr an seiner Umgebung. An seiner kleinen Tochter.
Ihr kam es so vor, als sei es erst gestern gewesen, dass er mit ihr gelacht und gespielt hatte. Ihr größter Wunsch war damals in Erfüllung gegangen. Ihre Sehnsucht nach einem Vater war das einzige Geheimnis, das sie je vor ihrer Mutter gehabt hatte. Die meiste Zeit war sie damit zufrieden, Mamas kleine Katze zu sein, mit ihr in einer schäbigen Hütte im afrikanischen Busch zu leben, mit unbeholfenen Stichen die Löcher in ihrem einzigen Kleid zu stopfen und auch damit, dass ihre Mahlzeiten mehr aus Zeit als aus einem Mahl bestanden. Es war ihr egal, solange sie in den Armen ihrer Mama einschlafen durfte, nachdem sie ihr eine Geschichte von einem aufregenden Leben im fernen Paris erzählt hatte. Von einem Prinzen mit langem, schwarzen Haar und märchenhaft blauen Augen, der nichts lieber tat, als seine Liebste zu necken.
Überdeutlich hatte sie seine letzten Worte im Ohr, bevor er verstummte. Sie hatten ihre Mutter fragen wollen, ob sie eines Tages ein gemeinsames Baby haben würden, ein Baby, das in ihrer Familie aufwachsen sollte, umgeben von Liebe und Sicherheit. Ein Baby, das nach seiner Geburt nicht einfach verschwinden würde, weil skrupellose Menschen es an den Meistbietenden verkauften – an Organhändler.
Sie erinnerte sich an jenen Tag, als ihr Vater und sie Hand in Hand auf dem Pariser Flughafen gestanden und darauf gewartet hatten, dass die Maschine mit Beate, Adrian und Frithjof an Bord endlich landete. Doch die Drei waren nicht ausgestiegen. Sie konnten es nicht mehr.
Das alles wollte sie Manuel erzählen, damit er verstand. Sie holte tief Luft und hob den Kopf, weil unbeirrt ein Funke Hoffnung in ihr glomm, dass er ihr zuhören und dann seine Meinung ändern würde. Ein eisiger Schauer zog ihr Rückgrat entlang, als sich ihre Blicke begegneten. Die Verachtung, die sie in seinen Augen erkannte, brach ihr das Herz. Sie würde sagen können, was sie wollte, er würde sie vielleicht sogar ausreden lassen, aber er hatte sie längst verurteilt.
Erschöpft ließ sie sich auf das Sofa sinken. Erst der Überfall auf dem Hügel, dann der Autounfall und nun auch noch die schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihrer Ve rgangenheit. Sie fühlte, dass dies alles über ihre Kräfte ging, und ließ den Kopf sinken.
Wie oft hatte ihre maman versprochen, es würde das letzte Mal sein, dass sie ihre tapfere, kleine Katze allein ließ. Höchstens drei Tage, dann wären sie wieder zusammen. Sie hatte sich an sie geklammert, das Gesicht an ihren schwangeren Bauch gepresst, und der Stimme ihrer Mutter gelauscht, während diese mit den Fingern beruhigend durch ihr langes Haar strich. Sie hatte sie angefleht nicht zu gehen, obwohl sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Wieder und wieder war sie von ihr allein gelassen worden und sie wäre jedes Mal fast gestorben vor Verzweiflung, während sie ihr nachschaute. Stundenlang hatte sie sich nicht von der Stelle gerührt und den Weg im Auge behalten aus Angst, sie könnte die Rückkehr ihrer Mutter verpassen.
Bis sie eines Tages wirklich nicht mehr kam.
Sie mühte sich verzweifelt, das Schluchzen zu unterdrücken, das in ihrer Kehle aufstieg. Ihr Herz schmerzte, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie mutterseelenallein auf dieser Welt zurückgeblieben war.
„Alicia?“
Vorsichtig wandte sie Manuel das Gesicht zu und fragte sich, wie lange er schon seine Augen sorgenvoll auf sie gerichtet hielt. Es war, als hätte er etwas entdeckt, als hätte er hinter die sorgfältig errichtete Fassade ihrer Gleichgültigkeit geschaut und einen Blick auf den Kummer und die Verlustangst geworfen.
„Wir waren etwa im gleichen Alter, als wir zu Halbwaisen wurden. Deshalb begreifst du vielleicht, wie das ist, wenn deine Liebe nicht ausreicht. Wenn der Mensch, den du liebst, sich ungeachtet deiner Liebe von dir und vom Leben abwendet. Und du stehst daneben und kannst ihn nicht daran hindern zu gehen. Du glaubst, du müsstest ebenfalls sterben, das Leben allerdings gibt dich nicht einfach so her. Also bleibst du zurück und musst alleine damit fertig werden, mit dem Verlust, der Trauer und dem Leben. Oder mit dem, was dir davon geblieben ist. Denn du wirst nie wieder derselbe sein wie zuvor.“
Er wollte es nicht zulassen, gleichwohl gingen ihm ihre Worte zu Herzen. Er konnte den tiefen Schmerz dahinter erkennen, seltsamerweise dadurch, dass Alicia keine Miene dabei verzog. Es war, als hätte sie geübt, diese
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