Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
sich gerichtet sah, zog er peinlich berührt seine Hand zurück.
„Ich muss wohl eingeschlafen sein“, beendete er schließlich seinen angefangenen Satz und registrierte, wie Alicia missbilligend eine fein geschwungene Augenbraue in die Höhe zog.
Ja, das war ihr nicht entgangen. So ein Schlaumeier! Aber sie hatte genauso den verzweifelten Ausdruck auf seinem bleichen Gesicht bemerkt. Einen Moment lang hatte sie sich vor ihm gefürchtet, doch der Mann vor ihr litt so offenkundig unter seinen Träumen, dass sie das überwältigende Verlangen verspürte, ihn zu trösten.
„Wie ist das passiert?“
Er fasste sich schnell, allerdings nicht schnell genug, dass ihr nicht klar geworden wäre, wie sie mit ihrer Frage eiskalte Luft auf einen blank liegenden Nerv gelenkt hatte.
„Das? Keine Ahnung. Ist lan ge her“, wiegelte er mit leicht schleppender Stimme ab und zuckte mit einer für ihn typischen Bewegung mit der Schulter.
„ Diese Narbe ist nicht älter als ein Jahr. So etwas vergisst man nicht.“
Ihre fragenden Augen schienen bis auf den Grund seiner Seele vorzudringen und ihm die Wahrheit entlocken zu wollen. Vergeblich wehrte er sich gegen ihre Einmischung.
„Nein.“
„Ein Linkshänder?“
Nicht der Chief Mate, sondern der Kapitän war Linkshänder!
Aber wieso der Kapitän? Das konnte nicht sein! Es ergab überhaupt keinen Sinn.
Er blickte Alicia mit gespieltem Gleichmut an. Sie wusste es. Sie wusste, dass er nicht der Musterknabe war, der er zu sein vorgab. Mit einer unbedachten Reaktion hatte er sich verraten. Nur ein Mensch, der Gewalt erlebt hatte, schlug im Schlaf um sich, wie er es getan hatte. Ali cia war nicht so naiv, nackte Angst nicht zu erkennen, wenn sie ihr derart offenkundig begegnete.
„Es war nicht von Bedeutung “, winkte er ab.
Er log. Sie spürte es und erkannte es an der Art, wie er ihrem Blick auswich, indem er sich mit gespieltem Eifer den Papieren auf seinem Schreibtisch widmete. Es verletzte sie, dass er ihr nicht genug vertraute, um ihr die Wahrheit zu sagen.
Und was ist mit den Geheimnissen, die du vor al ler Welt verbirgst? Vertraust etwa du ihm? wisperte ihr schlechtes Gewissen.
„ Erzähl mir, wie das passiert ist“, wiederholte sie sanft.
Erst als ihre leisen Worte in sein Bewusstsein drangen, bemerkte er, dass er sich geistesabwesend über die hässliche Narbe strich, die sich von seiner Leiste über den Oberschenkel bis hinab zu seinem zertrümmerten Knie zog. Hastig legte er die Hand auf den Tisch.
„Das willst du nicht wissen. Und überhaupt geht das niemanden etwas an.“ Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich und er zog sich hinter seine sorgfältig aufgetürmte Mauer des Schweigens zurück.
„Ich bin nicht niemand “, flüsterte Alicia und hätte ihn am liebsten gepackt, ihn an den Schultern gerüttelt und angeschrien, denn auch sie hatte in wenigen Jahren genügend Leid erfahren, dass es für zwei Menschenleben gereicht hätte.
„ Wer immer du sein magst, es geht selbst dich nichts an.“
Ihr ganzes Leben lang war sie auf Ablehnung gestoßen, aber dass jetzt sogar Manuel ihren Trost, so gering er auch sein mochte, ab wies, rieb Salz in alte Wunden. Sie stand sehr still und beobachtete, wie er die Augen schloss und sich mühte, den Schmerz in seiner Kehle zu ignorieren. Die Bilder indes, die aus der Tiefe seiner Erinnerung aufstiegen, wurden deutlicher, drängten ans Licht und beherrschten schließlich all sein Denken. Es tat weh, sich zu erinnern, alles wieder und wieder zu erleben, doch er konnte es nicht aufhalten.
„ Auf der Heimreise gab es Unsicherheiten bei der Positionsbestimmung. Zwar äußerten die Nautiker während ihrer Wachen immer wieder Zweifel an der Richtigkeit des Schiffsortes, dennoch unternahm der Kapitän nichts, um eine Klärung zu verlangen. Stell dir vor, sogar der Funker ermittelte eine Differenz von sechzig Seemeilen in Vorausrichtung! Aber welcher Nautiker lässt sich schon von einem ‚Amateur’ ins Handwerk pfuschen? Irgendwann arteten die Differenzen zu handfesten Streitigkeiten zwischen dem Alten und dem Chief Mate aus“, unternahm Manuel den Versuch ehrlich zu sein, ohne zu viel preiszugeben. Er machte eine Pause und hob sein gefülltes Glas, ohne davon zu trinken. Mit einem Ruck stellte er es zurück auf den Tisch.
„De r Alte hatte in der Nacht zuvor getrunken, weil ihm die Oberstewardess eine Abfuhr erteilt hatte. Wieder einmal. Er hätte ihr Vater sein können! Trotzdem wollte er sich nicht damit
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