Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
abfinden, dass er aus dem Rennen war. Stechhagelvoll erschien er auf der Brücke, um nach dem Rechten zu sehen, der Chief Mate allerdings schickte ihn schlafen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass der Alte unberechenbar geworden wäre mit dieser Menge Alkohol im Blut. Und das konnte unser toller Chief nicht gebrauchen. Der nämlich hatte Pflichtbewusstsein und Ehrgefühl genau wie Anstand und Glaubwürdigkeit mit der Muttermilch aufgesogen. Der Archetyp der Untadeligkeit. Er erinnerte mich …“
Mit der Hand fuhr sich Manuel durch sein strubbliges Haar und beendete seine immer heftiger werdende Rede mit dem lapidaren Kommentar: „Nun ja … so war er eben.“
„ Wie Matthias, wolltest du sagen. Weshalb du ihm vermutlich nicht sonderlich viel Sympathie entgegenbringen konntest.“
Schamröte trat ihm ins Gesicht. Genau wie bei seinem Adoptivvater hatte er sich bei der Einschätzung des Chiefs ausschließlich von Gef ühlen leiten lassen. Wenn er bloß nicht so verblendet gewesen wäre! Er hätte die Katastrophe sowohl auf Sean Garraí als auch auf der „Charley“ verhindern oder zumindest aufhalten können.
„Er war äußerst gründlich in s einer Arbeit, mitunter dermaßen penibel, dass er einen auf die Palme bringen konnte. Dabei haben wir es vor allem seinem entschlossenen Durchgreifen zu verdanken, dass wenigstens das Klarmachen der Rettungsmittel und später die Evakuierung einigermaßen geordnet vor sich gingen, während der Alte auf der Unsinkbarkeit seines Schiffes beharrte.“
Er wusste nicht, wa rum es ihn plötzlich drängte, über seine eigene unglücksselige Rolle in diesem Drama zu reden. Alicia hatte sich ihm gegenüber gesetzt, sagte nichts, hörte einfach nur zu und gab ihm damit das trügerische Gefühl, selbst entscheiden zu können, wie viel er ihr offenbarte.
„ Der Alte brachte nichts anderes zustande, als zuzusehen und abzuwarten. Er gab keine Weisung zur Erfassung der Schäden nach der Grundberührung und berief auch nicht den Schiffsrat ein, geschweige denn dass er die Besatzung und die Reederei informiert hätte. Er veranlasste weder eine Überprüfung der Signalraketen, noch ließ er eine Dringlichkeitsmeldung an Radio Brest senden – einfach nichts bekam er auf die Reihe! Der Bordbetrieb lief im normalen Rhythmus weiter, so als wäre alles in bester Ordnung. Das Köchlein und der Bäcker bereiteten sogar noch in aller Ruhe das Abendessen vor. Die haben nicht einmal geahnt, dass wir unsere Henkersmahlzeit längst eingenommen hatten. Das Schiff sank am späten Nachmittag.“
Mit zittrigen Händen griff Manuel erneut nach seinem Glas und stürzte den Inhalt in seinen Rachen. Ehe Alicia ihn zurückhalten konnte, hatte er es ein weiteres Mal gefüllt und beinahe schneller noch geleert. Für einen Moment schloss er die tränenden Augen und atmete mehrmals tief durch.
„ M’anam , an dieses Zeugs werde ich mich wohl nie gewöhnen. Wenn das wirklich das Kriterium dafür sein soll, was einen Mann ausmacht, bin ich doch lieber eine Frau.“
„Erinnerungen sind mindestens ebenso gute Schwimmer wie Sorgen.“
„Ja.“ Er wischte sich unbeholfen über die Augen. „Ja, da ist was Wahres dran. Ein halbes Jahr ist vergangen und das sollte eigentlich Zeit genug gewesen sein, um zu vergessen, trotzdem höre ich noch immer, wie alle durcheinanderschrien, als das Ende nahte. Der Alte brüllte sinnlose Befehle, die glücklicherweise keiner befolgte. Seine Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht hochrot und seine Hose stand offen. Er sah aus, als hätte er den Verstand verloren oder zumindest zu viel getrunken. Vermutlich war beides der Fall. Der Chief Mate hing eingeklemmt zwischen zwei Stahlträgern, Blut lief ihm über das Gesicht. Er tat so, als ginge ihn das gar nichts mehr an, hat kein Wort gesagt und mich lediglich angeschaut. Ich war mir sicher, er trug die Seiten aus dem Schiffstagebuch bei sich. Ich hätte sie an mich nehmen können, doch es war mir plötzlich vollkommen egal, was damit geschehen würde. Was aus ihm wurde. Dann riss sich ein Ladebaum aus der Verankerung und bohrte sich in die Aufbauten. Irgendjemanden hat es dabei erwischt. Ich habe den Schrei gehört. Während der ersten Wochen habe ich ihn jede Nacht gehört. Hoch und schrill. Immer und immer wieder, bis ich davon aufgewacht bin. Am ganzen Körper zitternd vor Kälte und Nässe, die nicht von den Wellen herrührten, die über uns zusammenschlugen und einen nach dem anderen in die Tiefe
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