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Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)

Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)

Titel: Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansi Hartwig
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es geschah alles ohne sein Zutun. Er nickte und antwortete, wenn man ihn ansprach – mit der Willenskraft eines Toten. Mehr und mehr schien sich sein Verstand in einer Zwischenwelt zu bewegen. Er träumte, dass er die Augen öffnete und ein Licht sah. Er kannte dieses Licht. Es war weich, friedlich und rein.
    Wo bin ich? flüsterte er. Bin ich tot?
    Dein Schicksal ist noch nicht erfüllt, hörte er eine sanfte Stimme, die mit einem Lächeln zu antworten schien. Die Erinnerung an diese Stimme ließ ihn vor Freude und Sehnsucht erzittern. Wie lange hatte er darauf gewartet, sie wieder zu hören.
    Geh zurück, mein Junge, das Leben wartet auf dich. Wir wollen dich hier noch lange nicht sehen.
    Ich muss meine Schuld begleichen.
    Es gab nie eine Schuld, Manuel. Die Stimme kam näher, sodass er sich instinktiv danach umdrehen wollte. Doch ihm fehlte die Kraft. Keine Schuld, mein Sohn, nur Liebe. Deshalb musst du umkehren. Sie brauchen dich.
     
    Als er in dieser Sekunde die Augen öffnete, blickte Alicia ihn derart mitfühlend an, dass ihm die Tränen kamen. Er war überzeugt gewesen, die Mauern, die er um sich aufgeschichtet hatte, seien undurchdringlich. Er hatte geglaubt, es sei genügend Zeit vergangen, um den Kummer verblassen zu lassen.
    Wied er hatte er sich geirrt. Die Mauer war aus Sand und der Schmerz noch immer unerträglich. Alicia schlug Breschen in seine Verteidigungsanlagen, ohne sich dessen bewusst zu sein, und er konnte niemandem eine derartige Intimität zugestehen. Wenn es so weiterging, war es lediglich eine Frage der Zeit, bis sie die Dämonen entdeckte, die in seinem Innern lauerten. Und wenn das geschah, würde sie sich angewidert von ihm abwenden. Er musste eine gewisse Distanz zwischen ihnen aufrechterhalten, andernfalls würde sie ihn zu guter Letzt verachten. Oder bemitleiden. Also kämpfte er gegen den glühenden Schmerz, zwängte ihn in eine kleine Schachtel, die er tief in seinem Inneren verstaute, weil er sonst die nächsten paar Minuten und Tage und Wochen nicht überleben würde.
    „Nach zwei Tagen wurde die Suchaktion von den französischen Behörden schließlich abgebrochen. Es bestand keine Aussicht mehr, weitere Überlebende zu finden. Alle Nautischen Offiziere, der LTO und fünf Passagiere, die beiden Stewardessen und ein paar Jungs von der Mannschaft sind nicht zurückgekehrt.“ Seine Stimme hatte wieder jenen emotionslosen Klang angenommen, mit dem er andere von weiteren Fragen abhalten wollte.
    Meh r würde er an diesem Abend also nicht dazu sagen.
    Alicia deutete auf den Brief, über dem er eingeschla fen war. „Alle fragen sich, aus welchem Grund du derart eifrig Briefe schreibst. Hat es damit zu tun? Mit dem Seeunfall?“
    „Alle fragen danach? Mein Gott, genau das war einer der Gründe, weshalb ich es damals nicht länger hier ausgehalten habe. Ständig diese neugierigen Fragen, dieses Interesse an Dingen, die einzig und allein dich selber etwas angehen, Mitgefühl – ich bezweifle nicht, dass es aufrichtig gemeint war –, der Wunsch zu helfen und gute Ratschläge zu erteilen. Ich habe es nicht ertragen.“ Wieder zuckte er mit der Schulter und sein Lächeln verrutschte etwas. „Und ich befürchte, daran hat sich nicht viel geändert. Tut mir leid für euch.“
    Sie hatte den Schmerz in seinem Blick gesehen, wenn keine Post für ihn kam. Zwar tat er gleichgültig, sobald der Postbote auf seinem Mofa den Kiesweg zum Herrenhaus nach oben fuhr, sie indes entdeckte jedes Mal das erwartungsvolle Funkeln in seinen Augen. Welches wieder grenzenloser Enttäuschung wich.
    Er hatte nic ht auf ihre Frage geantwortet. Nun, wenn er dermaßen hartnäckig schweigen konnte, würde sie ihm beweisen, dass sie mindestens ebenso ausdauernd sein konnte, wenn sie etwas wissen wollte.
    „ Sicher wird es eine Verhandlung vor dem Seeamt geben. Werden sie dich als Zeugen vorladen?“
    Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er es bedauerte, so viel über sich erzählt zu haben. Aber sie wollte um keinen Preis, dass es ihm leidtat, sie ins Vertrauen gezogen zu haben. Aus welchem Grund hatte er es getan? Warum erzählte er ihr diese Dinge über sich? Wollte er sie für sich einnehmen oder wollte er sie abstoßen?
    Er senkte den Blick und schien auf ihr Urteil zu war ten. Sie trat zu ihm und er versteifte sich, als sie die Arme ausstreckte. Ihre Umarmung hatte etwas Beschützendes, wenngleich dies bei einem so breitschultrigen Mann ein wenig unglaubhaft war. Doch zu ihrer und vielleicht auch zu

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