Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
ein volles Glas neben sich, und leise schna rchte. Eine rührende, jungenhafte Verletzlichkeit umgab ihn, während er schlief. Ein gequälter Seufzer und gemurmelte Wortfetzen aus seinem schmerzlich verzogenen Mund ließen sie innehalten, obwohl sie im ersten Moment auf der Stelle kehrtmachen und schnellstmöglich außerhalb seiner Reichweite flüchten wollte.
Armer Kerl, dachte sie, während sie, neugierig geworden, lautlos den Raum durchquerte und einen Blick auf den mit Dokumenten, losen Papieren und Büchern übersäten Tisch warf. Ohne Zweifel war er völlig überfordert mit dieser für ihn ungewohnten Aufgabe , bescherte sie ihm doch sogar Albträume. Andererseits musste er sich irgendwann damit auseinandersetzen. Es ging das Gerücht, Lisa hätte Damien ein knallhartes Ultimatum gesetzt, und selbstverständlich liebte er sie viel zu sehr, als dass er seines Bruders wegen riskierte, sich den Zorn seiner Gattin zuzuziehen.
Zögernd trat Alicia noch näher. War Manuel tatsächlich dermaßen ehrgeizig, wie Damien ihn beschrieben hatte, dass er sich bis zur Erschöpfung mit den Rechnungen und Verträgen beschäftigte? Wenn ihn bloß sein verdammter Stolz nicht daran hindern würde, seinen Bruder oder jemand anderen um Hilfe zu bitten! Hatte er deswegen mitten in der Nacht, geradezu heimlich gearbeitet? Sie würde ihn darauf ansprechen und ihm versichern, dass sie es liebte, mit Zahlen und Formeln zu jonglieren. Ein Erbteil ihres Vaters, wie sie vermutete, der sich bereits während seines Studiums als vielversprechendes Talent auf dem Gebiet der Architektur einen Namen gemacht hatte.
Und der all seine Chancen auf eine erfolgreiche Karriere mit der jahrelangen, kostspieligen Suche nach seiner Frau vertan hatte. Der einen Großteil seines immensen Erbes allein für den Traum verschleudert hatte, Beate Schenke und ihre gemeinsame Tochter zurück nach Paris zu holen und mit ihnen ein ganz normales Familienleben zu führen.
Alicia schüttelte energisch den Kopf und richtete ihr Augenmerk wieder auf den friedlich schlafenden Manuel. Seine Haare mussten geschnitten werden, bemerkte sie und war versucht, die Strähne, die ihm über die Augen gefallen war, zur Seite zu streichen. Stattdessen griff sie nach einem der Blätter, um seine fast unleserliche Handschrift besser entziffern zu können, ohne jedoch zu sehen, dass Manuels Finger darauf lagen.
„Lass los!“, zischte er und umklammerte Alicias Handgelenk mit eisernem Griff.
Sie unterdrückte einen überraschten Aufschrei.
Er blickte sie verwirrt an, während er langsam aus den dunklen Tiefen des Schlafes auftauchte. Auf seinem Gesicht glänzte kalter Schweiß.
„ Du? Was … Fass mich nie wieder … nie wieder an, wenn ich schlafe“, stieß er keuchend hervor.
„ Das hatte ich auch eben nicht vor. Du tust mir weh, Manuel.“
Schlagartig war er bei klarem Bewusstsein und abrupt ließ er ihre Hand los. Der ohnmächtige Zorn und die nackte Angst in seinen Augen ließen Alicia zusammenzucken.
„Es tut mir leid. Alles in Ordnung mit dir? Ich dachte … ich habe …“
Er hatte geträumt. Wie so oft in seinen Träumen war er wieder an Bord der „Charley“, damals, in jener Nacht, bevor die Katastrophe mit aller Gewalt über sie hereingebrochen war.
Er hatte gerade seine Wache beendet und erst vor dem verschlossenen Schott zu seiner Kammer bemerkt, dass er den Schlüssel im Maschinenkontrollraum vergessen hatte. Also war er auf die Brücke gegangen, um sich den Generalschlüssel zu holen, wo er den Chief Mate im Kartenraum dabei überraschte, wie er einige Seiten aus dem Bordtagebuch heraustrennte. Er hatte ihn zur Rede gestellt und ihn lautstark der Urkundenfälschung bezichtigt. Aus welchem Grund sonst sollte sich jemand an dem Journal zu schaffen machen? Dummerweise hatte er dem Älteren nicht einmal die Möglichkeit gegeben, etwas zu erwidern oder gar sein Tun zu erklären, ein Versäumnis, welches er sich bis heute nicht verzeihen konnte.
Der Lichtschein spiegelte sich in der Klinge des Brieföffners, als Alicia einen Schritt zur Seite trat. Manuel zuckte zusammen und spürte wieder den brennenden Schmerz. Instinktiv fuhr er sich über die rechte Wange. Es war wie ein déjà vu , trotzdem schien er etwas vergessen zu haben. Irgendetwas, an das er sich erinnern sollte. Nur einen dünnen Vorhang, den er beiseiteschieben musste, dann würde er es deutlich erkennen. Gleichwohl bekam er den Gedanken nicht zu fassen.
Als er Alicias aufmerksamen Blick auf
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