Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
ihr bunte Bilder von dem aufregenden Leben in Paris gemalt und manchmal hatten sie sich beide vorzustellen versucht, wie sie das aufregende Treiben der Großstadt genießen würden, könnten sie eines Tages gemeinsam an der Seine entlang bummeln.
Als sie , Alicia, entgegen aller Wahrscheinlichkeiten später tatsächlich französischen Boden betrat, kam alles ganz anders, als sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatte.
Sie rieb sich über die Augen, als könnte sie damit die Erinnerung an jene Zeit vertreiben, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete ihren Laptop ein. Zwar gab es hinsichtlich der Leistungsfähigkeit nicht das Geringste an der Anlage der Clausings in der Bibliothek auszusetzen, dennoch musste sie hin und wieder auf ihr eigenes Gerät zurückgreifen, welches sie jetzt mit einem Modem verband, um über eine stinknormale, lahme Telefonverbindung online zu gehen. Natürlich erschien es intelligenter, mit Lichtgeschwindigkeit über Glasfaserkabel zu surfen, allerdings musste sie diesen Kompromiss eingehen, weil es für diese Aufgabe wichtiger war, ihre Spuren unauffindbar in Millionen von Kilometern Telefonkabel zu verstecken.
Sie musterte den blinkenden Cursor auf dem Bildschirm mit einem halb fragenden, halb schuldbewussten Gesichtsausdruck, dann gab sie entschlossen mehrere Befehle ein und stellte eine Verbindung zwischen ihrem Laptop und einem Rechner her, der mehr als tausend Kilometer von Sean Garraí entfernt stand. Es war nicht legal, was sie so ziemlich jede Nacht tat, und deshalb rechnete sie stets damit, dass die Polizei sie ungeachtet aller Vorsicht eines schönen Tages ausfindig machen würde. Aus diesem Grund hatte sie vor Jahren die passend für ihre Zwecke umgeschriebene Software von der Festplatte gelöscht, sämtliche Sicherungsdisketten vernichtet und stattdessen bestimmte Programme auf einem Computer versteckt, mit dem man sie nicht in Verbindung bringen würde.
Die ihr inzwischen bekannten Begrüßungsworte des Innenministeriums in Berlin erschienen auf dem Monitor und die Fragen nach Benutzername und Passwort. Sie gab Survivor ein, ein kleines Zugeständnis an ihre Vergangenheit, und eine wirre Folge aus dreizehn Ziffern und Zeichen sowie Groß- und Kleinbuchstaben, welche kompliziert genug war, um nicht geknackt zu werden.
Wenig später hatte Alicia mehrere Dateien aus dem fiktiven Benutzerkonto heruntergeladen, mit deren Hilfe sie Zugang zu unterschiedlichen Rechnertypen und Netzwerken erhielt, Passwörter und Benutzernamen finden sowie ihre Anwesenheit in einer fremden Maschine vertuschen konnte, außerdem Kommunikations- und Entschlüsselungsprogramme. Sie loggte sich aus dem Rechner in Berlin aus und machte sich auf die Suche nach alten und neuen Informationen der irischen Polizei. Das Jagdfieber hatte sie einmal mehr gepackt.
Der Regen schien Alicias Aufruhr zu teilen. Immer lauter trommelte er auf das Dach und hielt sie während der nächsten Stunden wach, bis sich ein pochender Schmerz hinter ihrer Stirn bemerkbar machte. Für einen Augenblick war sie versucht, eine der Tabletten zu nehmen, die ihr Ray verschrieben hatte, verwarf den Gedanken aber genauso schnell wieder, wie er ihr gekommen war.
Als ihre Zähne vor Kälte derart laut aufeinanderschlugen, dass sie schon befürchtete, das ganze Haus zu wecken, ließ sie ein Tarnprogramm durchlaufen, mit dem sämtliche Spuren ihres Spaziergangs in dem fremden Computer beseitigt wurden. Jeder Hinweis darauf, welche Dateien sie sich angeschaut und wie lange sie sich im System aufgehalten hatte, war somit verwischt. Sie fuhr den Laptop herunter und huschte auf Zehenspitzen über den Gang und die Treppen hinab. Vielleicht könnte sie der permanenten Schlaflosigkeit ein Schnippchen schlagen, indem sie später noch ein wenig arbeitete und darüber einschlief. Sie brauchte Schlaf, vorher allerdings wollte sie sich etwas Wärmendes zu trinken besorgen.
Aus der Bibliothek fiel ein schmaler Streifen Licht in den dunklen Gang. Hatten sie am Abend vergessen , die Lampen auszuschalten? Oder arbeitete Damien immer noch? Unwillkürlich schmunzelte sie, hatte sie ihm doch bereits einige Male tief in der Nacht Gesellschaft geleistet, wenn er über den Büchern saß und ihn der Schlaf – und mehr noch die Verzweiflung – zu überwältigen drohten.
Aber es war Manuel, der zusammengesunken an dem schweren Schreibtisch des Hausherrn saß, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet, eine zur Hälfte geleerte Flasche Whiskey und
Weitere Kostenlose Bücher