Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
Jahre ein dickes Fell zugelegt.
Noch immer suchte er nach einer passenden Ausrede für seine Abwesenheit, obwohl er wusste, er würde keine finden. Seine Mutter hatte sämtliche Mühen der Planung, Vorbereitung und Durchführung für den céilí vor allem seinetwegen auf sich genommen, sodass es ihm unmöglich war, dem Treiben einfach fernzubleiben, ohne sie vor den Dorfbewohnern zu brüskieren. Sogar der Bürgermeister war in der Zwischenzeit eingetroffen – seinen Gemeinderat im Schlepptau.
Fast war er versucht zu glauben, die Gäste mit ihrem ausgelassenen Lachen seien in einen Wettstreit um die höchste Phonzahl mit den Musikern getreten, die ihre Instrumente stimmten und ihre Kehlen mit kräftigen Schlucken auf ihren Einsatz vorbereiteten. Es duftete nach gebratenem Fleisch und leckeren Pasteten, knusprigem arán donn und frischem Gebäck. Allerdings befürchtete er, nicht einmal diese Köstlichkeiten würden es schaffen, ihm den bevorstehenden Abend schmackhaft zu machen.
Seine Augen suchten die Bankreihen ab, auf denen die Massen zusammenrückten, um Platz für alle zu schaffen. Wie nicht anders zu erwarten war, erkannte er kaum einen von ihnen. Zehn Jahre. Großer Gott, hatte er sich ebenfalls dermaßen verändert? Endlich entdeckte er Alicia, die sich offenbar genauso verlassen vorkam wie er selber. Unschlüssig schaute sie sich um, ging ein paar Schritte in Richtung des Spielplatzes, den Matthias vor zwanzig Jahren für ihn und seine Brüder angelegt hatte, doch schon nach wenigen Metern wandte sie sich wieder um. Sie schien irgendetwas zu suchen. Oder jemanden?
Er fühlte sich von ihr angezogen , das wollte er gar nicht leugnen. Vielleicht wurde es Zeit, dass er sich nach unten begab und Alicia Gesellschaft leistete.
Zu spät!
Am liebsten hätte er seinen Frust aus sich herausgeschrien oder mit den Fäusten gegen die Hauswand geschlagen wie ein bockiges Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hatte. Denn da standen plötzlich wie aus dem Boden gestampft zwei ihm unbekannte Männer vor Alicia. Ihr dagegen waren sie eindeutig nicht fremd, erkannte er, als er die freudige Überraschung auf ihrem Gesicht bemerkte und sie die Begrüßungsküsse dieser Kerle erwiderte. Als sich einer zu ihr hinüberbeugte, um etwas in ihr Ohr zu flüstern, und sie daraufhin vor Lachen schier zu bersten schien, spürte Manuel, wie sein Blut in Wallung geriet. Verdammt, was wollten diese alten Knochen von ihr? Es missfiel ihm, dass Alicia ihren Spaß hatte, dass Fremde sie zum Lachen brachten und sie sich augenscheinlich köstlich amüsierte.
M ehr noch indes verwirrte ihn dieses Gefühl, welches ihn wie ein gefräßiges Raubtier gepackt hatte und nicht mehr loslassen wollte.
Sie spürte, wie er sie beobachtete. Ihr weiblicher Instinkt hatte ihr seine Anwesenheit verraten, kaum dass er aus dem Haus getreten war. Sie versuchte sich einzureden, sich auch ohne ihn großartig zu amüsieren. Dabei äugte sie ein ums andere Mal verstohlen zu Manuel hinüber und musterte abschätzend die Frauen, die mit offensichtlichem Interesse an ihm vorbei trippelten und sich redlich mühten, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er hätte sie wenigstens begrüßen können, dachte sie . Aber das war wohl zu viel verlangt. Nach einem Kuss konnte sie nicht erwarten, dass sie sich heute weniger fremd waren als am ersten Tag. Vielleicht hatte es ihm wirklich nichts bedeutet. Bereute er womöglich sogar, was sie getan hatten? Es war lediglich ein Kuss gewesen. Mehr nicht.
Sie bildete sich noch immer ein, den sanften Druck seines Mundes auf ihrem zu spüren, das angenehme Prickeln auf ihrer Haut, als seine Zunge ihre Lippen geteilt und vorsichtig um Einlass gebeten hatte. Sie hatte alles um sich ausgeblendet und bloß ihn und sich gespürt.
Nur ein Kuss und so viel mehr.
„Alicia.“
Er verfluchte sich, weil es ihm nicht möglich war, ihr einfach hinterher zu rennen, um sie einzuholen.
„Alicia!“, rief er etwas lauter, womit er erste neugierige Blicke auf sich zog. „Warte einen Moment.“
Endlich drehte sie sich zu ihm um und ihre ausdruckslose Miene ließ keinen Rückschluss darauf zu, ob sie sich einen Spaß daraus gemacht hatte, ihn hinter sich herlaufen zu lassen wie einen Hund, oder ob sie gehofft hatte, er würde sie ebenfalls den Rest des Tages in Ruhe lassen, wenn sie ihn lange genug ignorierte.
„ Alicia, ich muss mit dir reden.“ Er deutete mit dem Kinn hinüber zu den Hecken, wo sie um diese frühe Stunde ungestört sein
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