Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
verspreche es dir. Und auch, dass ich mich melden werde, sobald ich weiß …“
Er würde also heimkehren, wenn er eine Entscheidung getroffen hatte. Mehr konnte sie nicht erwarten, oder?
„Du wirst doch dann noch hier sein?“
„Ist das so wichtig?“
„Es wäre … schön. Findest du nicht auch?“
„Schön. Na dann, Manuel, ich wünsche dir Erfolg bei deiner Suche.“
„Danke. Und du langweile dich nicht ohne mich.“
Seine Überheblichkeit weckte ihren Widerstand. „Ich weiß nicht, was du erwartet hast, allerdings bin ich mir sicher, dass ich sehr gut ohne dich auskommen werde“, erwiderte sie schnippisch und hob die Nase in die Höhe. „So wie ich mich übrigens nie gelangweilt habe, ehe du in Sean Garraí aufgetaucht bist.“
Aus irgendeinem Grund schienen ihm ihre Worte nicht zu gefallen. Lange schon, bevor er hier aufgekreuzt war, hatten sich Alicia und Ray Gaughan gekannt. Wenn er jetzt Killenymore verließ, würde sie ihre Aufmerksamkeit eben wieder dem Arzt zuwenden, als wäre das Intermezzo mit ihm ohne jede Bedeutung gewesen. So einfach war das.
Jäh drehte er sich um und zwang sich zur Ruhe. Ohne Zweifel war es von Vorteil, dass er nie die Beherrschung verlor, dachte er grimmig. Er war daran gewöhnt, nicht aus der Rolle zu fallen und stets die Kontrolle zu behalten. Betont lässig schlenderte er aus dem Raum und zog die Tür derart ausgesucht sachte hinter sich ins Schloss, dass Alicia genau wusste, er hätte sie am liebsten so fest zugeschlagen, dass sie aus den Angeln sprang.
Alicia stieß langsam die angehaltene Luft aus und ließ sich in den nächsten Sessel sinken. Sie zog ein Buch aus dem Regal und bemerkte, wie ihre Hände zitterten. Oh Gott, sie wollte nicht, dass er ging! Sie konnte sich nicht erklären, was sie von ihm wollte, was sie erwartete, aber in ihrem Inneren schien alles in Aufruhr geraten zu sein, seit sie ihm auf dem Hügel das erste Mal in die Augen gesehen und darin den Rest ihres Lebens erkannt hatte. Was sie für Manuel fühlte, unterschied sich so sehr von der brüderlichen Freundschaft, die zwischen Raymon und ihr bestand, dass es bloß eine Erklärung dafür geben konnte.
Sie hatte nicht gewollt, dass dies geschah. Sie hatte ihm keinen Einlass in ihr Herz gewähren wollen , dennoch war es passiert. Mit Bestürzung wurde ihr klar, was das zu bedeuten hatte. Verknallstufe Rot!
Ein lautes Poltern vor der Tür ließ sie zusammenfahren. Erschrocken eilte sie in die Halle und schaute sich um. Von Manuel keine Spur.
Dann entdeckte sie die Scherben einer Porzellanvase, die kurz zuvor noch auf einem Sockel in der Nähe des Fensters gestanden hatte. Sie schüttelte mit einem leisen Seufzer den Kopf.
Es sah fast so aus, als hätte jemand das gute Stück absichtlich gegen die Wand geworfen.
Zwei Tage später hatte sich Manuel von allen verabschiedet, um nach Deutschland zu fliegen. Er würde zurückkommen, hatte er noch einmal versichert und die skeptischen Blicke seiner Familie mit körperlicher Schwere wie Dolchspitzen auf sich gerichtet gefühlt. Glaubten sie ihm nicht, dass er dieses Versprechen so meinte, wie er es sagte? Er konnte es ihnen nicht verübeln. Und trotzdem …
In dem Moment, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, hatte die Zeit aufgehört zu sein. Alicia schien es, als würde sie sich außerhalb der Gegenwart bewegen und sich selbst aus der Ferne beobachten, wie sie jeden Tag ausritt, wie sie den Kindern vorlas, mit ihnen malte oder ihnen auf spielerische Weise die Funktionsweise eines Computers erklärte.
Dagegen kam sie m it ihrer Dissertation in Informatik keinen Schritt vorwärts, weil sich, sobald sie ernsthaft zu arbeiten versuchte, ihre Gedanken auf sein Bild konzentrierten. Selbst die Buchhaltung von Sean Garraí – bisher mehr Lust als Last für sie – ging ihr nicht so leicht wie gewohnt von der Hand. Immer, wenn sie in der Bibliothek saß und die mit seiner krakeligen Handschrift beschriebenen Zettel vor sich sah, dachte sie an ihn. Bevor er in ihr Leben getreten war, hatte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden, alleine zu leben aus Angst, ihr Herz zu verschenken. Und dann doch wieder verlassen zu werden und mit einem gebrochenen Herzen zurückzubleiben. Unglaublich, wie sich ihr Leben in den letzten Tagen verändert hatte.
Denn da waren ebenfalls die mitleidigen Blicke der Dorfbewohner, die sie bei jedem Gang durch den Ort verfolgten. Hin und wieder hörte sie Kommentare, vor denen sie am liebsten ihre Ohren
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