Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
genau dieser Sekunde ist sie abgerutscht. Ich sehe noch immer ihre Finger, die sich an den Rand klammerten und dann … löste sich einer nach dem anderen. Emilia hat geschrien und mich um Hilfe angefleht. Und ich habe daneben gestanden und nichts getan.“
Schneller, als er reagieren konnte, war sie aufgesprungen und schlang ihre Arme um ihn. „Oh, Manuel, es war nicht deine Schuld, dass du sie nicht retten konntest.“
Er zog sich innerlich von ihr zurück und sein Körper versteifte sich. „Woher willst du das wissen? Ich war der Einzige in der Nähe, der ihr hätte helfen können. Aber ich habe bloß zugesehen, wie sie in die Tiefe stürzte. Sie hat darauf vertraut, dass ich sie festhalte, dass ich ihr meine Hand reiche und sie vor dem Fall bewahre.“
Er gibt sich alle Schuld, erkannte sie. Dabei musste er wahnsinnige Schmerzen ausgehalten haben, als das Schott sein Bein zerschmetterte. Wie hätte er jemandem helfen wollen, grenzte es doch an ein Wunder, dass er selber diese Katastrophe überlebt hatte.
„Ich hätte sie auf das Bootsdeck bringen müssen und nicht …“
Oh Gott, diese Qualen, die aus seiner Stimme sprachen! Es war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Er schloss die Augen, um zu verhindern, dass sie die Tränen darin bemerkte.
„Ich habe sie nicht beschützt.“
„Du konntest sie nicht retten. Wie hättest du dich denn mit deinem verletzten Bein auch noch um sie kümmern sollen?“
„Das verstehst du nicht.“
„Natürlich nicht.“
Dabei konnte sie ihn besser verstehen als die meisten anderen. Wie oft hatte sie sich die Schuld daran gegeben, dass ihre Mutter nicht aus Afrika zurückkehrte und ebenfalls deren Retter ums Leben gekommen waren? Wie oft hatte sie sich damit gequält, das ihrer Mutter gegebene Versprechen, nämlich auf ihren kranken Vater aufzupassen, nicht eingelöst zu haben? Wie oft weinte sie noch heute des Nachts um das, was war und was hätte sein können?
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Es tut mir leid, was auf der ‚Charley’ passiert ist. Und dass du keine Antworten bekommen hast.“
„ Hör auf damit! Ich will dein Mitleid nicht“, sagte er mit harter Stimme und wischte ihren Arm beiseite.
„Glaubst du, ich hätte dir nicht mehr zu bieten als Mitleid?“
„Ich weiß, dass du viel mehr zu bieten hast.“
Während s ein hungriger Blick über ihren Körper wanderte, breitete sich ein Gefühl der Bedrohung in ihm aus, als ob die Welt, die er bis jetzt bewohnt hatte, plötzlich eine grundlegende Veränderung erfahren hätte, die seine Fähigkeit der Anpassung überschritt. Irgendetwas geschah mit ihm und das gefiel ihm nicht.
Wie es aussah, hatte eine kleine Frau seinen sorgsam errichteten Verteidigungswall durchbrochen. Er wollte diese Frau erobern, wünschte aber gleichzeitig, sie nie mehr wieder zu sehen. Letztlich schien keines von beidem möglich. Zu allem Übel war sie eine grundanständige Frau, die mit einem Liebesgeplänkel nicht zufrieden sein würde. Sie wollte das Herz des Mannes besitzen, auf den sie sich einließ. Sie war zu stolz und zu willensstark, um sich mit weniger zu begnügen.
Doch sein versteinertes Herz würde sich weder ihr noch einem anderen Menschen öffnen.
„ Du hast so viel zu geben, Alicia, wohingegen ich nichts habe, das ich dir zum Geschenk machen könnte. Und deswegen gehe ich jetzt besser. Muss einen Moment allein sein.“
Er wollte ihre Gesellschaft nicht. Er schloss sie aus seiner Trauer aus. Und das Bewusstsein, dass man jemanden liebte, der diese Liebe nicht erwiderte, war für Alicia die Hölle auf Erden.
„Ich möchte dir helfen. Sag mir, was ich für dich tun kann.“
„Lass mich in dein Bett.“
Sie ließ die Hand sinken, konnte allerdings nicht den Blick von ihm wenden, hin und her gerissen von dem Verlangen, ihm Trost zu geben oder ihn zum Teufel zu jagen.
„Und? Willst du mir jetzt immer noch helfen?“ Seine Stimme hatte einen so gefährlichen Unterton, dass sich ihre Nackenhaare aufrichteten. „Es ist wohl das Beste, wenn du mich vergisst. So wie ich es tun werde.“ Er wandte sich schroff von ihr ab und ließ sie stehen.
Wieder hatte man sie allein gelassen. Sie war es leid, zur Seite geschoben und lediglich dann beachtet zu werden, wenn man sie benötigte – wofür auch immer. Wann endlich wollte sie damit beginnen, sich gegen eine derart rücksichtslose Behandlung zu wehren? War sie nicht mehr als ein Platz, an dem man seine Probleme abladen konnte?
Besser das, sagte sie sich
Weitere Kostenlose Bücher