Der Erdrutsch (German Edition)
sah
glücklich aus. In der rechten Hand hielt er einen schmalen Stock,
den er morgens in einem Waldstück gefunden und zum Wanderstock
auserkoren hatte. Seine Wangen waren von der Luft gerötet. Er drehte
sich wieder nach vorne herum, ging die letzten Meter leichten Fußes
über die weiße Schräge. Johan näherte sich der Lawine. Aus der
Entfernung hatte der Haufen Schnee noch klein ausgesehen, aber nun,
als er davor stand, war er doch größer, als er zunächst gedacht
hatte. Er erhob sich an seiner höchsten Stelle etwa zweieinhalb
Meter und war wohl fünfzehn Meter breit. Auf der anderen Seite stand
Paul und blickte ihm entgegen.
„ Na
komm schon, trau dich. Da sind ein paar Fußstapfen drin. Das ist
sicher.“
Johan stocherte mit seinem Wanderstock im Schnee herum, konnte sich
aber nicht recht entscheiden, ob er es wagen sollte. Zugleich wollte
er auch keinen Rückzieher machen. Also schluckte er seine Angst
herunter. Tatsächlich waren vor ihnen schon Wanderer hier gewesen,
die tiefe Spuren hinterlassen hatten, in die Johan nun hineintrat. Er
achtete genau auf seine Schritte. Er ging ruhig und angespannt. Den
Blick hielt er gesenkt, damit er nicht daneben trat. Der Schnee war
locker, konnte erst seit vergangener Nacht hier liegen. Auf den
ersten Metern hielt sich Johan noch an dem Seil fest, dann verschwand
es in dem Schneehaufen. Die Fußstapfen waren etwa zehn, fünfzehn
Zentimeter tief, Spuren von Wanderschuhen zeichneten sich in ihnen
ab. Sie waren etwas größer als seine Schuhe, ohne Schwierigkeiten
passten seine Füße hinein. Unten waren sie allerdings schon
festgetreten. Ein wenig rutschig. Bei jedem Schritt musste sich Johan
konzentrieren, nicht wegzurutschen. Er warf einen Blick nach vorne,
um abzuschätzen, wie weit es noch war. Paul guckte ihn an. Er sah
besorgt aus. Dann schaute Johan einmal zur Seite, nach rechts, nach
unten.
Es war nur ganz kurz gewesen. Nicht länger als ein Augenzwinkern.
Aber das hatte gereicht. Ihm wurde die Tiefe bewusst. Sie sog ihn an.
Er blieb stehen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er starrte
nach unten. Er stand auf der Hälfte des Weges. Vor ihm sieben,
vielleicht noch acht Meter Schnee. Hinter ihm vermutlich ähnlich
viel. Ihm wurde schwindelig. Er schwankte. Übelkeit ergriff ihn. Er
wollte sich setzen, aber es gab keine Möglichkeit dazu. Plötzlich
wusste er, was er wollte: Runter. Er wollte springen. Wie
hypnotisiert starrte er in den Abgrund. Kein Zurück. Nur dieser eine
Weg: Nach unten. Er drehte sich ein wenig dem Abgrund zu. Die Angst
war verschwunden. Der Schwindel nahm zu. Wie in einer Wolke
verschleierte sich sein Blickfeld. Unendliche Ruhe umgab ihn. Der
linke Fuß hob sich wie von alleine. Ein Schritt nur. Dann würde die
Ruhe unendlich sein.
Ein Arm umgriff sein linkes Handgelenk. Eine sanfte Stimme nahm ihn
auf. „Komm.“ Er wurde zur Seite gezogen, ganz sachte. Er machte
einen Schritt. In den nächsten Fußstapfen. Noch immer war dieser
Nebel um ihn herum. Noch einen Schritt. Sein Gehirn war wie Watte. Es
dauerte schon Stunden, so kam es ihm vor. Noch ein Schritt. Seine
Beine wurden kalt. Die Hand hielt ihn ganz fest. Sie war warm. Sie
war Leben. Sie tat so gut. Er schloss die Augen, da er sowieso nichts
sah. Er ließ sich führen. Schritt für Schritt. Tränen liefen ihm
über die Wangen. Vom Schnee unter ihm stieg Kälte auf. Eisige
Kälte. Doch das Leben zog ihn weiter. Immer weiter nach vorne. Der
Griff um sein Handgelenk blieb fest. Die Hand, die ihn hielt war
Geborgenheit. Dann veränderte sich der Untergrund. Er wurde härter.
Die Wärme umschloss ihn vollends. Der Schwindel ließ nach.
Er öffnete die Augen und stand auf der anderen Seite der Lawine.
Paul hielt ihn fest. Johan sah, dass Pauls Wangen nass waren von
Tränen. Johan begann zu zittern. Jeder Muskel in seinem Körper
bewegte sich. Ein Schwall von Tränen ergoss sich über sein Gesicht,
das er an Pauls Hals vergraben hielt. Sie blieben einen Moment lang
so stehen, dann gingen sie wortlos die etwa sechzig verbleibenden
Meter bis in die Schlucht weiter. Paul hielt Johans Hand. Er zog ihn
hinter sich her. Bis zu dem Wasserfall. Sie setzten sich eng
nebeneinander auf einen Stein. Johan atmete die klare Luft. Er sog
sie bis in die letzten Bronchien tief ein. Das Zittern hatte
nachgelassen. Er fragte sich, wieso ihm nie zuvor diese Reinheit der
Luft aufgefallen war. Die Sonne wärmte ihn. Er schloss wieder die
Augen und konzentrierte sich auf die Stille. Er lauschte in
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