Der Erdrutsch (German Edition)
Strecke
frei war. Im Grunde blieb ihnen also nur die untere Route, die
zugleich auch spannender war.
Sie hatten sich etwas zu essen mitgenommen, jeder von ihnen hatte
eine Plastikflasche dabei, die sie in den Schluchten mit klarem
Wasser, das vom Berg herab floss, immer wieder auffüllen würden.
Nach dem Umweg an der Schneise aus Felsen und Erde vorbei, war die
erste Stunde noch recht entspannt. Das Wetter hatte wieder
aufgeklart, wodurch sie eine wunderbare Sicht ins Tal und auf die
Berge hatten. Die Sonne war so warm, dass sie sich nach einer Weile
die Jacken auszogen. Johan konnte sich kaum vorstellen, dass es
geschneit haben sollte. Aber hier und da, in den schattigen
Schluchten, entdeckten sie Neuschnee. Je höher sie kamen, desto
häufiger wurden diese Stellen.
Ein Schild mit der Warnung vor dem sich anschließenden Weg stand am
Wegrand. Es war die Rede davon, man müsse schwindelfrei sein und
sollte gutes Schuhwerk tragen. Der letzte tödliche Unfall lag erst
vier Jahre zurück. Sie rasteten.
Der Weg wurde nach und nach schmaler, nach rechts fiel der Hang immer
steiler ab. Die Bäume wichen kurzem Gestrüpp. Johan und Paul gingen
ein gutes Stück vor ihren Vätern, die in ein Gespräch über ihre
Frauen vertieft waren. Links erhob sich der Berg senkrecht in den
Himmel. Spitze Felsen, die nicht besonders vertrauenerweckend
aussahen, ragten aus ihm heraus. Ein Hanfseil begann sich an der Wand
entlang zu ziehen. Im Abstand von etwa fünf Metern war es mit
fingerdicken Eisenhaken befestigt. In langen Wellen hangelte es sich
als Sicherung am Fels entlang. Der Weg war hier nur noch eineinhalb
Meter breit. Er bestand aus dem hellen Gestein der Umgebung, war
weitgehend festgetreten, hatte aber auch immer wieder Stellen, an
denen Schotter und vor allem größere Steine oder kleine Felsbrocken
das Auftreten schwierig machten. Hin und wieder versperrte ein
größerer Fels, den sie umständlich umklettern mussten, den Blick
nach vorne. Während links die Felswand mit ihrem Seil die Illusion
von Sicherheit versprach, gab es rechter Hand keine Absicherung. Dort
ging es steil runter. Wie weit, das wusste Paul nicht, er wollte es
auch gar nicht genau wissen.
Schon eine Weile waren die beiden schweigend hintereinander her
gegangen, als er kurz stehen blieb, um nach Johan zu sehen. Er sah
ihm an, dass ihn die Höhe verunsicherte. Da Johan aber nichts sagte,
gingen sie langsam weiter.
Nach einiger Zeit kamen sie an einem kleinen Kreuz mit einer Madonna
vorbei. Sie blieben stehen. Eine verblichene Tafel erinnerte an das
junge Mädchen, dass etwa einhundert Jahre zuvor an eben dieser
Stelle in den Tod gestürzt war, nachdem sie von zwei aufdringlichen
Verehrern, verfolgt worden war. Johan schauderte, ging in die Hocke,
um nun doch einmal in die Tiefe zu blicken. Schnell zog er sich
wieder an die Wand zurück. Auch Paul wagte einen Blick nach unten.
Das war verdammt tief. Er trat zurück und schaute sich nach Johan
um, der neben ihm an der Wand lehnte. Er war etwas blass, war aber
dennoch zuversichtlich, den Weg zu meistern. Ihre Väter waren noch
weiter zurückgefallen, sie waren nicht zu sehen. Paul erkundigte
sich, ob alles in Ordnung sei, dann, nachdem Johan genickt hatte,
gingen sie weiter.
Johan blieb in den nächsten Minuten mehr und mehr hinter Paul
zurück, weil er in Gedanken versunken war. Den Blick hatte er
konzentriert auf den Weg vor sich gerichtet, immer die vor ihm
liegenden Meter im Fokus. Als er um einen Felsvorsprung bog, bliebt
er erstaunt stehen. Vor ihm lag ein gerades Stück Weg, etwa
einhundertfünfzig Meter lang, nicht steiler als die Stellen vorher,
eventuell sogar flacher. In der Mitte dieses Teilstückes war etwas
Weißes, etwas Wunderschönes: Eine Lawine aus Neuschnee hatte sich
aus großer Höhe über den Weg ergossen, wobei sie ihn in zwei etwa
gleich große Abschnitte teilte. Dahinter konnte Johan eine Schlucht
erkennen, durch die ein Bach ins Tal stürzte, wobei er den Weg auf
einer Breite von mehreren Metern überschwemmte. Das sollte aber kein
Problem sein. Dort lagen genügend Steine und Felsbrocken, dass man
mit ein paar Sprüngen darüber hinweg war. Außerdem war es eine
ideale Stelle für eine Rast, weil der Weg dort ebener war, sogar ein
paar kleine, schattenspendende Bäume hatten sich tief in die Felsen
eingegraben. Problematischer war diese Lawine.
Genau in diesem Moment kletterte Paul über den Schnee, blieb in der
Mitte der Lawine stehen, drehte sich zu ihm herum und winkte. Er
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