Der Erdrutsch (German Edition)
das Auto zu. Immer auf der Hut, immer darauf bedacht,
schnell fliehen zu können. Aber der Polo war leer. Es war das Auto
vom Abend vorher. Sie trat an das Auto heran und schaute durch die
Scheiben hinein. Ein Schlafsack, Klamotten, Wasserflaschen und, halb
unter einer Jacke verdeckt, ein Laptop. Zerschrammt und völlig
verschmutzt. Das musste der Computer von Elsbeth sein. Luise schaute
sich noch einmal um; niemand war in der Nähe. Sie versuchte, die
Autotür zu öffnen, aber sie war abgeschlossen. Sie ging um das Auto
herum. Auf dem Beifahrersitz lag ein Briefumschlag. Sie versuchte die
krakelige Schrift zu entziffern. Der Name sagt ihr nichts. Sie
schrieb ihn auf ein Stück Papier, das sie ihn ihrer Hose fand und
versuchte dann, die Beifahrertür zu öffnen. Da ertönte mit einem
Mal eine Stimme hinter ihr:
„ Na,
was soll das denn werden?“ Erschrocken drehte sich Luise um. Sie
stand einem Mann gegenüber. Sie wollte etwas sagen, aber er kam ihr
zuvor: „Du bist es also schon wieder. Du hast da etwas, was mir
gehört.“
„ Was
meinen Sie?“, fragte Luise ihn.
„ Die
Kette. Du weißt genau, welche ich meine.“ Er lächelte sie schief
an.
Er wollte nach ihrem Arm greifen, da floh sie. Sie rannte so schnell,
wie sie nur konnte. Bald hatte sie den Gasthof erreicht. An der Tür
drehte sie sich um und sah das Auto auf der Straße ins Tal
verschwinden. Sie tastete nach der Kette in ihrer Hosentasche. Sie
war noch da. Außer Atem lehnte sie sich an die Hauswand.
26. Kapitel
„ Mit Paul hast du
dich ja ganz gut verstanden, oder?“, fragte Johans Mutter
beiläufig.
„ Hmm.“
Johan hatte keine Lust, über Paul zu reden. Aber seine Mutter ließ
ihm keine Ruhe. Sie waren seit ein paar Stunden unterwegs und Johan
wollte ungestört sein.
„ Auf
dem Hinweg warst du noch so skeptisch, ob du mit ihm etwas anfangen
kannst. Die wohnen doch jetzt ganz bei uns in der Nähe, oder?“ Sie
drehte sich zu ihrem Sohn um. „Da könnt ihr euch doch mal
gegenseitig besuchen.“
„ Mama!
Klar machen wir das. Als wären wir nicht selbst auf diese Idee
gekommen. Wir sind ja nicht blöd.“ Johan blickte demonstrativ aus
dem Fenster. Immer noch zogen Berge an ihnen vorbei. Hin und wieder
konnte er eine halb verfallene Burg erkennen.
„ Ich
meine ja nur …“ Sie drehte sich wieder nach vorne. „Und Luise
ist auch ganz nett.“
Da war dieser Ton in ihrer Stimme, der Johan nicht gefiel. Immer wenn
in Johans Umfeld ein Mädchen auftauchte, benahm sie sich so, als
wollte er sie vom Fleck weg heiraten. Er hasste das.
„ Ja,
und die wohnt auch nicht weit von uns entfernt. Ich weiß …“
Johan kramte in seinem Rucksack, aus dem er ein Buch herauszog, das
seine Mutter ihm tags zuvor mitgebracht hatte.
„ Schade,
dass unser Urlaub so plötzlich unterbrochen worden ist.“ Sie nahm
sich jetzt auch ein Buch, so als wollte sie ebenfalls lesen. Doch
schon bald legte sie es wieder zur Seite.
„ Johan?“
„ Hmm?“
„ Das
hat dich alles sehr mitgenommen, oder?“ Sie wandte sich zu ihm nach
hinten herum.
„ Was
meinst du?“, erwiderte ihr Sohn, indem er ebenfalls das Buch sinken
ließ.
„ Dieser
Erdrutsch, der Tod von Elsbeth. Das alles.“ Sie blickte ihn besorgt
an. „Du kannst jederzeit mit mir reden, das weißt du hoffentlich.“
Sie atmete tief durch. Dann zwinkerte sie ihm zu. „Aber jetzt lasse
ich dich in Ruhe lesen.“ Sie setzte sich wieder gerade hin, strich
ihrem Mann dabei einmal kurz über den Arm, nahm dann ihr Buch, in
das sie sich vertiefte.
Die Fahrt war lang. Sie fuhren an Flüssen vorbei, durchquerten tiefe
Schluchten, passierten kleine Ortschaften, die sich an den Berghängen
festhielten, als hätten sie Angst, vom nächsten Windstoß davon
geweht zu werden. Das Wetter blieb auch bei der Überquerung des
Brenners schön. Nach einigen Stunden gelangten sie in die flacheren
Regionen Süddeutschlands, die schon von der Nähe ihrer Heimat
kündeten. Es war zwar noch hell, als sie ankamen, aber dennoch
gingen sie alle früh zu Bett. Johan lag lange wach. Er dachte über
die letzten Tage nach.
Der nächste Morgen begrüßte sie mit gemischtem Wetter. Der Himmel
war verhangen. Johans Mutter ging in die Stadt, um einzukaufen,
Johans Vater nahm sich die Ämter und die Bank vor, um die verloren
gegangenen Dokumente neu zu besorgen. So war Johan ganz auf sich
allein gestellt und entschloss sich, eine Tour durch das Wohnviertel
zu unternehmen. Vielleicht traf er ja jemanden. Tatsächlich liefen
ihm
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