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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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dächte sie nach. »Aber wie will ihn meine Herrin ergreifen? Das ist eine riskante Sache. Mein Plan ist sicherer. Gibt es dort unten nicht irgendwo einen Raum voller Gebeine von Männern, die das Labyrinth betreten, aber nicht wieder lebendig verlassen haben? Mögen ihn die Dunklen Mächte bestrafen, wie es ihnen richtig erscheint, auf die dunkle Art und Weise des Labyrinths. Der Tod des Verdurstens ist grausam.«
    »Ich weiß«, sagte das Mädchen und trat hinaus in die Nacht. Sie zog die Kapuze gegen den heftigen, bitterkalten Wind über den Kopf. Hatte sie es nicht gewußt?
    Es war kindisch und dumm von ihr gewesen, zu Kossil zu gehen. Von ihr konnte sie keine Hilfe erwarten. Kossil war unwissend, sie verstand nichts, für sie gab es nur ein kaltes Abwarten, bis der Tod eintrat. Sie sah nicht ein, daß der Mann gefunden werden mußte. Mit ihm durfte nicht das gleiche geschehen wie mit den anderen. Das konnte sie nicht mehr durchmachen. Da der Tod unvermeidlich war, mußte er rasch und bei Tageslicht vollzogen werden. Es war ohne Zweifel angemessener, daß dieser Dieb, seit Jahrhunderten der erste Mensch, der mutig genug war, hierherzukommen und die Gräber auszurauben, durch eine Schwertklinge hingerichtet wurde. Er hatte noch nicht einmal eine unsterbliche Seele, die wiedergeboren werden konnte. Sein Geist würde jammernd durch die Gänge entweichen. Es durfte nicht geschehen, daß er dort unten am Durst starb.
    Arha schlief nur wenig in dieser Nacht. Der folgende Tag war mit Ritualen und Pflichten erfüllt. Die nächste Nacht verbrachte sie damit, ohne Laterne und lautlos von Guckloch zu Guckloch zu huschen, durch alle Gebäude hindurch und auf den windigen Hügel hinauf. Schließlich ging sie im Kleinhaus zu Bett, zwei oder drei Stunden vor dem Morgengrauen, aber sie fand keinen Schlaf. Am Spätnachmittag des dritten Tages ging sie hinaus in die Wüste, gegen den Fluß zu, der jetzt, in der Trockenzeit des Winters, niedrig war. Eis hatte sich zwischen dem Schilf gebildet, und es war kalt. Es war ihr eingefallen, daß sie einmal, im Herbst, weit im Labyrinth herumgewandert war, am Sechserkreuz vorbei, und während sie einen gekrümmten langen Gang entlangschritt, hörte sie hinter der Steinwand Wasser fließen. War nicht anzunehmen, daß ein vom Durst gepeinigter Mann, wenn er dorthin kam, auch dort blieb? Auch dort draußen gab es Gucklöcher. Sie mußte sie erst wieder suchen, auch wenn Thar ihr letztes Jahr jedes einzelne gezeigt hatte, und es fiel ihr nicht schwer, sie wiederzufinden. Ihr Erinnerungsvermögen für Örtlichkeiten war wie das eines Blinden: Sie tastete eher nach den verborgenen Stellen, als daß sie ihre Augen benutzte. Beim zweiten Guckloch, das sich in einer flachen Vertiefung des Felsens befand und das am weitesten von den Gräbern entfernt war, sah sie, nachdem sie die Kapuze hochgezogen hatte, um das Licht abzuschirmen, unter sich das schwache Glühen des magischen Lichtleins.
    Er saß dort unten, nur halb ihrem Blickfeld preisgegeben. Das Guckloch war unmittelbar hinunter ans Ende der Sackgasse gerichtet. Sie konnte nur seinen Rücken, seinen gebeugten Nacken und seinen rechten Arm wahrnehmen. Er saß an der Ecke und bohrte mit seinem Messer, einem kurzen stählernen Dolch mit verziertem und edelsteinbesetztem Griff, an den Steinwänden herum. Die Spitze des Dolches war abgebrochen, der abgebrochene Teil lag direkt unter dem Guckloch. Er hatte ihn beschädigt, als er die Steine auseinanderzuzwängen versuchte, um an das Wasser zu gelangen, das er in der toten Stille unter der Erde auf der anderen Seite der undurchdringlichen Wand leise murmelnd dahinfließen hörte.
    Seine Bewegungen zeugten von Erschöpfung. Er war nach den drei Tagen und Nächten verändert, sah ganz anders aus, nicht mehr so kraftvoll und ruhig wie an der Eisentür. Aber er war noch immer hartnäckig, obwohl seine Kräfte erlahmt waren. Kein Zauberspruch stand ihm zur Verfügung, der diese Steine zur Seite rückte; er mußte sich auf das nutzlose Messer verlassen. Selbst sein magisches Licht war schwächer geworden. Während Arha hinschaute, flackerte das Licht auf, der Kopf des Mannes zuckte, und der Dolch fiel zur Erde. Doch er bückte sich sofort wieder danach und versuchte beharrlich, die zerbrochene Klinge zwischen die Steine zu schieben.
    Im eiskalten Schilf der Uferböschung liegend, ohne sich bewußt zu sein, wo sie war oder was sie tat, brachte Arha den Mund ans Guckloch und hielt die Hände wie einen

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