Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Weg, dem der Mann dort unten folgen mußte, war viel umständlicher, er war meilenlang; das hatte sie ganz vergessen. Und der Mann war zweifellos geschwächt und konnte sich nur langsam bewegen. Vielleicht hatte er ihre Anweisungen vergessen und die falsche Richtung eingeschlagen. Nur wenige Leute konnten, wie sie, Anweisungen im Gedächtnis behalten, die sie nur einmal gehört hatten. Vielleicht verstand er ihre Sprache überhaupt nicht. Wenn das der Fall war, dann sollte er von ihr aus herumlaufen, bis er dort unten tot umfiel, der Narr, der Fremde, der Ungläubige! Dann konnte sein Geist die steinernen Gräber von Atuan entlang heulen, bis die Dunkelheit selbst ihn verzehrte …
Am nächsten Morgen, ganz früh, nach einer schlaflosen Nacht voll quälender Träume, kehrte sie zu dem Guckloch in dem kleinen Tempel zurück. Sie blickte hinunter und sah nichts, nur Schwärze. Sie ließ eine Kerze, die in einer kleinen Blechlaterne brannte, an einer Kette hinunter. Dort, im Bemalten Raum, erblickte sie ihn. Im Lichtkreis der Lampe sah sie seine Beine und eine schlaffe Hand. Sie hielt den Mund an das Guckloch, das so groß wie eine ganze Bodenkachel war und sagte: »Zauberer!«
Nichts rührte sich. War er tot? Besaß er denn nicht mehr Stärke? Sie lächelte verächtlich; ihr Herz schlug heftig. »Zauberer!« schrie sie, und ihre Stimme dröhnte in dem hohlen Raum unter ihr. Er bewegte sich, setzte sich langsam auf und schaute verwirrt um sich. Nach einer Weile blickte er hoch, zuckte zusammen, als er die kleine Laterne wahrnahm, die an der Decke hin und her schaukelte. Sein Gesicht sah schrecklich aus, geschwollen, so dunkel wie das Gesicht einer Mumie.
Er griff nach dem Stab, der neben ihm auf dem Boden lag, aber kein Lichtlein glühte an dem Holz. Er enthielt keinerlei Macht mehr.
»Willst du den Schatz der Gräber von Atuan sehen, Zauberer?«
Er richtete sich mühsam auf und blinzelte in das Licht der Laterne, sonst konnte er nichts wahrnehmen. Nach einer Weile nickte er einmal mit dem Kopf; sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die vielleicht als Lächeln begonnen hatte.
»Verlaß diesen Raum, wende dich nach links, nimm den ersten Gang links …!« Sie ratterte die lange Reihe von Anweisungen herunter, ohne abzusetzen, und fügte am Ende hinzu: »Dort ist der Schatz, den du suchst. Und dort findest du, vielleicht, Wasser. Was hättest du denn jetzt lieber, Zauberer?«
Er stand jetzt schwankend auf den Füßen und hielt sich an seinem Stab fest. Mit Augen, die nichts sehen konnten, blickte er hoch und versuchte etwas zu sagen, doch kein Laut kam aus seiner ausgetrockneten Kehle. Er zuckte fast unmerklich die Achseln und verließ den Bemalten Raum.
Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Weg zur Großen Schatzkammer würde er sowieso nicht finden. Die Anweisungen waren so lang, er könnte sie sich nicht merken, und dort befand sich auch der Schacht, wenn er überhaupt so weit kam. Jetzt war er ganz im Dunkeln. Er würde sich verlaufen und endlich umfallen und irgendwo in den engen, hohlen, ausgetrockneten Gängen sterben. Manan würde ihn finden und herausschleifen. Das war das Ende. Arha hielt sich am Rand des Gucklochs fest und schwang ihren gekrümmten Körper hin und her, hin und her und biß sich auf die Lippen, als wäre sie in furchtbarer Pein. Sie würde ihm kein Wasser geben. Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Tod, den Tod, den Tod, den Tod, DEN TOD würde sie ihm geben.
In dieser dunkelsten Stunde ihres Lebens betrat Kossil mit schwerem Schritt die Schatzkammer, eine unförmige Gestalt in der dicken Winterkleidung.
»Ist er tot?«
Arha hob den Kopf. Ihre Augen waren trocken, sie hatte nichts zu verbergen.
»Ich nehme es an«, sagte sie und schüttelte den Staub aus den Röcken. »Sein Licht ist erloschen.«
»Er kann uns einen Streich spielen. Die Seelenlosen sind sehr schlau.«
»Ich werde noch einen Tag warten, um sicher zu sein.«
»Ja, oder zwei. Dann kann Duby hinuntergehen und ihn herausziehen. Er ist stärker als der alte Manan.«
»Aber Manan steht im Dienst der Namenlosen und Duby nicht. Im Labyrinth gibt es Bereiche, die Duby nicht betreten darf, und der Dieb befindet sich an einem solchen Ort.«
»Nun, dann ist der Ort ja bereits entweiht …«
»Und sein Tod reinigt ihn wieder«, sagte Arha. Sie merkte, daß Kossil auf ihrem Gesicht etwas Verdächtiges entdeckt hatte. »Dies ist mein Reich, Priesterin. Ich herrsche darüber und folge dem Willen meiner Gebieter. Ich
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