Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Trichter davor, damit kein Laut entweichen konnte. »Zauberer!« sagte sie, und ihre Stimme schlüpfte die steinerne Kehle hinunter und erreichte den unterirdischen Gang als kaltes Flüstern.
Der Mann schrak zusammen, sprang auf die Füße und entzog sich so ihrem Blickfeld. Sie brachte den Mund wieder ans Guckloch und sagte: »Geh den Gang am Fluß entlang, zurück bis zur zweiten Abzweigung, dort nach rechts; laß zwei Öffnungen aus, dann wieder rechts. Dort, wo sich sechs Wege kreuzen, wähl den Weg ganz rechts; dann links, dann rechts, dann links, dann rechts. Bleib im Bemalten Raum.«
Als sie wieder hinunterschaute, mußte ein Lichtstrahl vom Tageslicht hinuntergelangt sein, denn er war wieder in ihr Blickfeld gerückt und starrte nach oben, gegen die Öffnung. Sein Gesicht, das irgendwelche Narben trug, wirkte angespannt und aufmerksam. Seine Lippen waren ausgetrocknet und schwarz, doch seine Augen blickten hell. Er hob seinen Stab in die Höhe und brachte das Licht immer näher an ihre Augen. Erschreckt zog sie sich zurück, verschloß das Guckloch mit dem Stein und den anderen Tarnsteinen, erhob sich und eilte zurück zur Stätte. Sie fühlte, wie ihre Hände zitterten und wie eine Schwäche sie überfiel, während sie den Weg entlanglief. Sie wußte nicht, was sie tun sollte.
Wenn er ihren Anweisungen folgte, dann würde er zurück in Richtung der eisernen Tür gehen und in den Bemalten Raum gelangen. Dort war nichts, es gab keinen Grund, warum er sich dorthin begeben sollte. In die Decke des Bemalten Raumes war ein Guckloch eingelassen, ein gutes, das sich in der Schatzkammer des Tempels der Zwillingsgötter befand. Vielleicht hatte sie ihn deshalb dorthin geschickt. Sie wußte es nicht. Warum hatte sie mit ihm gesprochen?
Sie konnte ihm etwas Wasser durch das Guckloch hinunterlassen. Das würde ihn länger am Leben erhalten; solange es ihr Spaß machte. Wenn sie ab und zu Wasser und etwas Nahrung hinunterließe, dann bliebe er wochen- oder monatelang am Leben und würde im Labyrinth umherwandern, und sie könnte ihn durch die Gucklöcher beobachten und ihm raten, wo Wasser zu finden sei, und manchmal könnte sie ihn irreleiten, und er würde vergeblich danach suchen, aber er müßte ihr immer gehorchen. Das brächte ihm Respekt bei; er würde es bitter bereuen, die Namenlosen verhöhnt zu haben, er, der seine lächerliche Männlichkeit in der Gräberstätte der Namenlosen beweisen wollte!
Aber solange er dort unten war, konnte sie das Labyrinth nicht betreten. Warum nicht? fragte sie sich und antwortete: … weil er durch die Eisentür, die ich hinter mir offenlassen muß, entweichen kann … Aber er würde nicht weiter als bis zum Untergrab kommen. Sie gestand sich die Wahrheit ein: Sie fürchtete sich, ihm gegenüberzutreten. Sie hatte Angst vor seiner Macht, vor seinen Künsten, die ihm geholfen hatten, das Untergrab zu betreten, vor der Zauberkraft, die das Licht am Stab leuchten ließ. Aber war denn das so schrecklich? Die Mächte, die an den dunklen Orten herrschten, waren auf ihrer, nicht auf seiner Seite. Er konnte ganz offensichtlich wenig im Reich der Namenlosen ausrichten. Er hatte die eiserne Tür nicht öffnen können, er war nicht in der Lage, etwas zum Essen herbeizuzaubern, es gelang ihm nicht, Wasser durch die Wand zu leiten oder Dämonen herbeizurufen, die für ihn die Wand einreißen konnten. Nein, er war machtlos hier, und das, wovor sie sich gefürchtet hatte, konnte er hier nicht wirken. Während der drei Tage des Umherwanderns hatte er nicht einmal die Tür zur Großen Schatzkammer gefunden, die er gewiß gesucht hatte. Sie selbst war noch nie Thars Anweisungen gefolgt und hatte diesen Raum aufgesucht; sie hatte es immer wieder verschoben, aus einem Gefühl der Ehrfurcht heraus; etwas in ihr sträubte sich dagegen, ein Gefühl, daß die Zeit noch nicht reif sei.
Jetzt aber überlegte sie sich: Warum sollte er diesen Weg nicht für sie gehen? Er konnte, solange er wollte, sich an den Schätzen der Gräber vergnügen. Sie würden ihm wahrlich wenig nützen! Sie konnte sich über ihn lustig machen, konnte ihn auffordern, das Gold zu essen und die Diamanten zu trinken.
Mit der gleichen fieberhaften Hast, die während der vergangenen drei Tage Besitz von ihr ergriffen hatte, rannte sie zum Tempel der Zwillingsgötter, schloß die gewölbte kleine Schatzkammer auf und öffnete das gut verborgene Guckloch im Boden.
Der Bemalte Raum lag unter ihr, doch er war stockfinster. Der
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