Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Die Gänge waren verwinkelt und gekrümmt, keiner verlief gerade. »Dann mußt du um den Schacht gehen«, hörte sie Thar in der Dunkelheit ihres Gehirns sprechen, »und der Weg ist ganz schmal.«
Sie verlangsamte ihre Schritte, beugte sich nach vorn und fühlte mit der Hand am Boden entlang. Der Gang verlief jetzt gerade, um den Wanderer in Sicherheit zu wiegen. Plötzlich fühlte ihre Hand, die unaufhörlich getastet und hin- und hergewischt hatte, nichts mehr. Ein Steinrand, eine Rundung und hinter dem Rand nur Leere. Die Wand rechts fiel steil hinab in den Schacht. Links davon war ein Vorsprung, ein Sims, nicht viel breiter als eine Hand.
»Hier ist ein Schacht. Dreht euch gegen die Wand links, lehnt euch dagegen, geht seitlich, schiebt eure Füße. Halte die Kette, Manan … Seid ihr auf dem Sims? Er wird schmaler. Verlagert euer Gewicht nicht auf die Fersen. So, ich bin am Schacht vorbei. Gebt mir die Hand. Hier …«
Der Gang verlief jetzt im Zickzack, mit vielen seitlichen Öffnungen. Aus einigen tönte das Echo ihrer Schritte auf seltsam hohle Weise, und noch seltsamer war ein leichter Windzug, der nach innen wehte. Diese Gänge mußten in Schächten enden wie jenem, an dem sie gerade vorbeigekommen waren. Vielleicht lag hier, unter dem tiefsten Teil des Labyrinths, eine Höhle, ein Gewölbe, das so tief, so riesig war, daß das Untergrab daneben klein erschien, eine immense, innerliche schwarze Leere. Aber über diesem Abgrund, in den dunklen Gängen, durch die sie sich bewegten, wurde es immer enger und so niedrig, daß selbst Arha sich bücken mußte. Hörte das denn nie auf?
Das Ende kam plötzlich: eine verschlossene Tür. Vornübergebeugt, etwas schneller als gewöhnlich gehend, stieß Arha mit dem Kopf und den Händen dagegen. Sie tastete nach dem Schlüsselloch, dann nach dem kleinen Schlüssel mit dem Drachen am Griff, der an ihrem Ring hing und den sie noch nie benutzt hatte. Er paßte und drehte sich im Schlüsselloch. Sie öffnete die Tür zum Großen Schatz der Gräber von Atuan. Stickige, verbrauchte Luft schlug ihr entgegen.
»Manan, du kannst hier nicht eintreten. Warte hier!«
»Er kann – und ich nicht?«
»Wenn du diesen Raum betrittst, Manan, wirst du ihn nicht wieder lebendig verlassen. So lautet das Gesetz, und es gilt für alle, außer für mich. Kein Sterblicher außer mir hat je diesen Raum lebendig wieder verlassen. Willst du hereinkommen?«
»Ich warte draußen«, sagte die melancholische Stimme aus der Finsternis. »Herrin, Herrin, schließ die Tür nicht!«
Seine Angst machte sie so unruhig, daß sie die Tür offenließ. Der ganze Ort erfüllte sie mit geheimem Grauen, und sie fühlte Mißtrauen gegen den Gefangenen in sich aufsteigen, obgleich er eingezwängt war in Eisen. Als sie drinnen war, zündete sie ihr Licht an. Ihre Hände zitterten. Die Kerze in der Laterne wollte nicht brennen. Die Luft war verbraucht und alt. Im trüben gelben Schein des Lichtes, das nach der langen Dunkelheit hell erschien, war die Schatzkammer mit ihren unruhigen Schatten deutlich zu erkennen.
Sechs große Truhen befanden sich darin, alle aus Stein, alle mit dickem Staub bedeckt wie Schimmel auf Brotlaiben. Die Wände wirkten uneben, die Decke war niedrig. Kälte erfüllte den Raum, eine tiefe, luftleere Kälte, die das Blut im Herzen zum Stocken brachte. Kein Spinngewebe, nur Staub war zu sehen. Hier unten gab es nichts Lebendiges, nicht einmal die seltenen kleinen weißen Spinnen des Labyrinths. Der Staub war dick, so dick, ein Staubkorn für jeden Tag, der hier vergangen war, hier, wo die Zeit stillstand, wo kein Licht je hinfiel: Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte, zu Staub zerfallen.
»Dies hier ist der Platz, den du gesucht hast«, sagte Arha, und ihre Stimme klang ausdruckslos. »Hier liegt der Große Schatz der Gräber. Du bist angelangt. Du wirst ihn nie wieder verlassen.«
Er gab keine Antwort, und sein Gesicht war ruhig, doch in seinen Augen lag etwas, das sie berührte: eine Verzweiflung, der Blick eines Mannes, der sich betrogen fühlte.
»Du hast gesagt, daß du am Leben bleiben willst. Dies hier ist der einzige Ort, an dem du sicher bist. Kossil würde dich töten oder mich zwingen, daß ich dich töte, Sperber. Hierher kann sie nicht kommen.«
Er schwieg noch immer.
»Du hättest die Gräber so oder so nie verlassen können, siehst du das nicht ein? Das hier ist nicht viel anders. Du bist wenigstens ans … ans Ende deiner Reise gelangt. Was du suchst, ist
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